"Armenien ist isoliert": Eine Treuchtlingerin über den Berg-Karabach-Konflikt

12.11.2020, 06:01 Uhr

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Ihre erste Erinnerung an Berg-Karabach spielt zu Zeiten der Sowjetunion: Damals war Lyubov Hölzel noch ein Kind und verbrachte mit ihren aus Berg-Karabach stammenden Eltern stets die Sommerferien bei der dort lebenden Verwandschaft. In ihren Gedanken ist die bergige Landschaft von Arzach (so lautet die armenische Bezeichnung für die Region) ein Paradies, in dem aus üppigen Quellen Wasser fließt, überall Blumen blühen und sie sich bei ausgedehnten Wanderungen noch heute so fit fühlt, als wäre sie ein 15-jähriges Mädchen.

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Auch wenn diese friedliche, ländliche Idylle heute nicht mehr dieselbe ist, verbringt Lyubov Hölzel noch heute jeden Sommer dort. Seit vielen Jahren ist Berg-Karabach kein Ort mehr für kindliche Unbeschwertheit. Es ist ein Ort der Kriegstrümmer, der Flucht und Vertreibung geworden. "Die Kinder, die heute dort drüben sterben, das sind auch meine Kinder", sagt die Armenierin hörbar aufgewühlt.

Bis in die Pubertät lebte Hölzel mit ihren Eltern in der Nähe der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Als sich die Spannungen zwischen den beiden Ländern zuspitzten, war sie gerade einmal 17 Jahre alt. Sie zog mit ihren Eltern zurück nach Armenien, wo der Konflikt schnell zu einem Teil ihres Alltags wurde. 1994 kämpfte ihr heutiger Ex-Mann an der Front. Die damals 29-Jährige ernährte mit größter Mühe ihre beiden Kinder, bis sie irgendwann nichts mehr hatten, ihre Wohnung verkauften und nach Deutschland flüchteten.

Eigene Fluchterfahrung half ihr bei der Arbeit

Seit 1999 lebt Lyubov Hölzel in Treuchtlingen und engagiert sich ehrenamtlich für Flüchtlinge, die in dem Gemeindegebiet ankommen. 2016 und 2017 arbeitete sie als Flüchtlingskoordinatorin in Donauwörth. "Ich habe mich engagiert, weil ich weiß, wie es ist, nichts zu haben", erklärt sie. Hölzel versteht die Beweggründe der Geflüchteten, weil sie selbst einmal Todesangst um ihre Kinder hatte. Auch ihr hat Deutschland vor über 20 Jahren eine Chance gegeben, sodass ihr heute erwachsener Sohn nicht in diesem Krieg kämpfen und sterben muss.

Und dennoch treibt die Armenierin täglich das Leid um, dass ihre Landsleute noch immer ertragen müssen. "Alle Länder, die zulassen, dass Armenien kaputt geht, laden eine Mitschuld auf sich", findet sie.

Ende Oktober hat die 55-Jährige die Tatenlosigkeit von Deutschland in einer E-Mail an Bundeskanzlerin Angela Merkel angeprangert. Darin rief sie "die christlich-demokratische Kanzlerin" zu einer öffentlichen Reaktion auf den Berg-Karabach-Konflikt auf. Gegenüber dem Treuchtlinger Kurier stellt sie klar: "Wir Armenier brauchen kein Geld und auch keine Einmischung." Es gehe ihr aber darum, dass Deutschland helfen müsse, Frieden herzustellen und die Kämpfe zu beenden.

Der Neffe kämpfte an der Front

Als Antwort erreichte Hölzel nur wenige Tage später ein Schreiben aus Berlin, in dem man ihrem Vorwurf widersprach, Deutschland liefere Waffen in das umkämpfte Gebiet. Darüber hinaus erklärte das Büro der Bundeskanzlerin, dass Angela Merkel "sehr besorgt über das Wiederaufflammen der Gefechte" sei. Sie stehe zu dem Thema im engen Austausch mit Partnern und Regierungsvertretern und habe "wiederholt mit Ministerpräsident Paschinjan und mit Staatspräsident Alijew (den Regierungschefs von Armenien und Aserbaidschan – Anm. d. Red.) telefoniert, um ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen und eine Rückkehr zu substanziellen Verhandlungen zu erreichen".


Raketenangriff im Oktober 2020: Tote nach Angriffen im Süd-Kaukasus


Zunächst schöpfte die Treuchtlingerin aus dieser Antwort zwar Hoffnung, aber "in den vergangenen Wochen änderte sich nichts". Hölzel telefoniert derzeit mehrmals täglich mit ihrer Schwägerin, die in Armeniens Hauptstadt Eriwan lebt. Ihrem Neffen wurde vor kurzem an der Kampflinie in den Fuß geschossen, seit einigen Tagen liegt er im Krankenhaus. "Ein weiterer junger Mann, der vielleicht nie wieder laufen kann", sagt sie verbittert.

Ihr tue es leid um all die Mütter, die um das Überleben der eigenen Kinder bangen müssten, erklärt Hölzel. Und um die Menschen aus Berg-Karabach, die derzeit in Scharen die Region verlassen. "Sie sind aus den bombardierten Gebieten geflüchtet und in den Hotels in ganz Armenien untergebracht." Dass diese Menschen nicht an dem Ort leben könnten, den sie ihre Heimat nennen, findet die Armenierin untragbar: "Die Kinder wollen in die Schule zurück, Familien in ihre Häuser und Landwirte auf ihre Höfe."

1991 rief die Gebirgsregion Berg-Karabach kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit aus, was zu jahrelang schwelenden militärischen Konflikten zwischen Armenien und Aserbaidschan führte (siehe Artikelende). Weil Berg-Karabach als unabhängiger Staat nicht anerkannt wird, erfährt die armenische Seite kaum Unterstützung durch andere Länder.

Mittlerweile gehen Armenier auf der ganzen Welt auf die Straße, um auf die Situation aufmerksam zu machen – etwa in Australien, Brasilien oder vor den Büros der Delegation der Europäischen Kommission in Griechenland. In Deutschland hatten Mitte Oktober 200 Armenier die Norderelbbrücke in Hamburg blockiert, sodass die Autobahn A1 gesperrt werden musste. Sie verlangten mehr Berichterstattung über den Krieg in Berg-Karabach.

Sie fordert mehr Empathie von den Deutschen

Auch Lyubov Hölzel fordert die Menschen in ihrem Umfeld auf, mit Empathie und Mitgefühl auf "diesen Hilfeschrei, den drei Millionen Armenier gleichzeitig äußern", zu reagieren. Sie glaubt nicht, dass die Vereinbarung, die der armenische Ministerpräsident am vergangenen Montag unterzeichnet hat, zu einem friedlichen Ende des Konflikts führen wird. "Meine Landsleute verstehen nicht, warum von oben herab entschieden worden ist, dass tausende Menschen ihre Arbeit und ihre Heimat verlieren und obdachlos bleiben sollen." Sie ist sich sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der Kampf weitergeht.

Die Geschichte von Berg-Karabach kurz zusammengefasst

Schätzungen zufolge leben heute zwischen 60.000 und 80.000 Armenier in Deutschland, die meisten in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Hamburg. Die meisten von ihnen kamen nach dem Völkermord an den Armeniern 1915/16 nach Deutschland, in den letzten Jahrzehnten sorgte der Konflikt um Berg-Karabach für Fluchtbewegungen. Bereits 1905 und 1918, als beide Länder noch zum Russischen Reich gehörten, gab es zwischen dem christlich geprägten Armenien und dem mehrheitlich schiitischen Aserbaidschan Kämpfe um Berg-Karabach. Dieses bergige, rund 4400 Quadratkilometer große Gebiet war schon damals hauptsächlich von Armeniern bevölkert, wurde aber im Zuge der Eingliederung beider Länder in die UdSSR Aserbaidschan zugerechnet, da es sich innerhalb der Landesgrenzen von Aserbaidschan befindet.

1988 profitierten die Armenier von der Perestroika und forderten mehr Freiheit: Die örtlichen Machthaber entschieden zugunsten von Armenien und wollten dem Land das Gebiet Berg-Karabach angliedern. Die Entscheidung löste jedoch gewaltsamen Protest aus. In Aserbaidschan wurden in der Folge bei einem Pogrom dutzende Armenier ermordet. 1991 zerfiel die Sowjetunion. Aserbaidschan und Armenien wurden unabhängig, und Berg-Karabach rief eigenmächtig die Unabhängigkeit aus. Ein dreijähriger Krieg zwischen den Ländern begann, der nicht mit einem Friedensabkommen endete, sondern mit einem einfachen Waffenstillstand am 16. Mai 1994.

Eine Rauchwolke steht über einem Gebäude in Stepanakert, der Hauptstadt Berg-Karabachs: Das aserbaidschanische Militär hat dort mehrere Ziele mit Raketen beschossen.

Eine Rauchwolke steht über einem Gebäude in Stepanakert, der Hauptstadt Berg-Karabachs: Das aserbaidschanische Militär hat dort mehrere Ziele mit Raketen beschossen. © Sergei Bobylev/imago images

Trotzdem gab es in den folgenden Jahren immer wieder Kämpfe, Schätzungen gehen von insgesamt 20.000 bis 30.000 Opfern auf beiden Seiten und 100.000 Vertriebenen aus. Zuletzt gewann der Konflikt um Berg-Karabach Anfang September an Intensität, wobei Aserbaidschan von der Türkei unterstützt wird, während Armenien auf Russland als Schutzmacht setzt. Als die aserbaidschanische Armee am 9. November zur strategisch wichtigen Stadt Schuscha vordrang, verkündete Russlands Präsident Wladimir Putin noch in der selben Nacht die Unterzeichnung einer Vereinbarung zur Waffenruhe.

Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan soll das Dokument erst später und nur widerstrebend unterzeichnet haben. In Armenien flammen seither Proteste auf: Demonstranten gingen in der Hauptstadt Eriwan auf die Straße, beschimpften Paschinjan als Verräter und stürmten und verwüsteten den Regierungssitz.

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