Corona-Impfung: Menschen mit Behinderung fühlen sich vergessen

28.1.2021, 08:03 Uhr
In einem Berliner Impfzentrum schiebt eine Helferin bei einem Probelauf einen Statisten im Rollstuhl durch die Hallen. Menschen mit Behinderung erhoffen sich, dass auch sie bald eine Corona-Impfung bekommen können.

© Christophe Gateau/dpa In einem Berliner Impfzentrum schiebt eine Helferin bei einem Probelauf einen Statisten im Rollstuhl durch die Hallen. Menschen mit Behinderung erhoffen sich, dass auch sie bald eine Corona-Impfung bekommen können.

Jeden Abend vor dem Schlafengehen muss Simone L. ihr Beatmungsgerät anschalten und eine Maske aus Kunststoff über Mund und Nase legen. Simone L. hat eine restriktive Lungenerkrankung, ohne dieses Gerät kann sie nicht leben. Teilweise braucht sie auch tagsüber zusätzlichen Sauerstoff.


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Simone L. ist Anfang 50 und wohnt in der Metropolregion Nürnberg. Seit frühester Kindheit ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. Neben ihrer Lungeninsuffizienz ist sie vor ein paar Jahren an der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose (MS) erkrankt. Sie zählt ihre Krankheiten auf, um zu verdeutlichen, wie ernst die Lage für Menschen mit Behinderung während der Coronakrise ist.

Seit Beginn der Pandemie verlässt sie ihre Wohnung nur noch selten. "Eine Corona-Infektion werde ich höchstwahrscheinlich nicht überleben", sagt sie. Seit Monaten versucht sie sich in totaler Selbstisolation, so gut es eben geht. Denn L. wird im Alltag von mehreren Assistentinnen und Assistenten eines ambulanten Pflegedienstes unterstützt. Jeden Tag kommt jemand anderes vorbei, Morgens und abends. "Ganz in Sicherheit bin ich also nie, egal wie sehr ich meine privaten Kontakte reduziere", so Simone L.

"Ich fühle mich vergessen"

Sie wähnte sich aufgrund ihrer Vorerkrankungen von Anfang an als Teil der Hochrisikogruppe und rechnete deshalb mit einer schnellen Impfung. Als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Nationale Impfstrategie und die Impfgruppierungen bekannt gab, war L. "absolut geschockt." Denn: Menschen mit Behinderung, die in den eigenen vier Wänden wohnen, kommen in den ersten beiden Kategorien nicht vor.

Es ist nicht das erste Mal, dass L. sich vergessen und "wirklich verschaukelt" fühlt. Bei der kostenlosen Ausgabe der FFP2-Masken zählte sie ebenfalls nicht zur Risikogruppe. "In der Apotheke sagte man mir, ich brauche einen entsprechenden Coupon der Krankenkasse", so L. Bei einem Anruf listete L. einer Mitarbeiterin der Krankenkasse ihre Krankheitsgeschichte auf. "Sie hat sich entschuldigt und gesagt, sie könne nichts machen. Meine Diagnosen stünden nicht auf der Liste der Risikopatienten, die kostenlose Masken bekommen", so L.


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Ein weiterer Punkt, der sie ärgert: Zwar hätten Assistenzkräfte, wie in Pflegeheimen, Anrecht auf Corona-Schnelltests, aber nur, wenn diese über einen ambulanten Pflegedienst und nicht von der Person selbst angestellt sind. In diesem Fall könne man nur darauf vertrauen, dass sich die Assistenten an die Regeln halten und die Kontaktbeschränkungen beachten. Dass sich die meisten nun als Teil der zweiten Gruppe impfen lassen wollen, beruhigt Simone L., "trotzdem bleibt ein Rest Unsicherheit bei denen, die es nicht tun".

Für sie steht außer Frage, dass die Bewohnerinnen und Bewohner in Senioren- und Altenpflegeheimen sowie medizinisches Personal als erstes geimpft werden müssen. "Das ist ja ganz klar." Aber: Menschen mit Behinderung wie sie fallen derzeit komplett durch das Raster. Schon eine normale Lungenentzündung sei für sie lebensbedrohlich. Die Angst vor einer Corona-Infektion ist seit Monaten ihr ständiger Begleiter. "Ich kann mir nicht vorstellen, noch ein weiteres Jahr so zu verbringen. Mich isolieren zu müssen und dennoch keine Sicherheit zu haben", sagt sie.

Petition will Gleichberechtigung

Die Stimmung unter ihren Freunden und Bekannten mit diversen Vorerkrankungen ist dementsprechend schlecht. Alle hofften sie auf eine baldige Impfung, doch durch den verschleppten Impfstart sei dies nun in weite Ferne gerückt.

Eine Petition mit bislang über 56.000 Unterschriften fordert das Bundesgesundheitsministerium und die Ständige Impfkommission am Robert-Koch-Institut (Stiko) dazu auf, schwerbehinderte Menschen in die Impfgruppe 1 oder 2 aufzunehmen. Es sei den Organisatoren ein Rätsel, "warum in Österreich und Dänemark Menschen in vergleichbaren Situationen berechtigterweise in Impfgruppe 1 geführt werden, bei uns aber nicht mal genannt werden", heißt es in einem Schreiben an Gesundheitsminister Jens Spahn.


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Die Stiko besserte bereits nach und legte am 8. Januar die erste Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung vor. Demnach können die Bundesländer beziehungsweise die Impfzentren künftig auch in Einzelfallentscheidungen treffen. Dies gelte für seltene, schwere Vorerkrankungen, "für die bisher zwar keine ausreichende wissenschaftliche Evidenz bzgl. des Verlaufes einer Covid-19-Erkrankung vorliegt, für die aber ein erhöhtes Risiko angenommen werden kann".

Was sich erst einmal positiv anhört kommt bei den Betroffenen nicht gut an. "Das ist überhaupt kein Weg", sagt Simone L. Denn: wie Betroffene konkret früher geimpft werden können, ist für viele weiter unklar. "Kommen wir nur zu einer Impfung, wenn wir uns enorm anstrengen, um als Einzelfall anerkannt zu werden?", fragt sie sich.

Zu wenige Informationen

In Rheinland-Pfalz kam es bereits zu einer solchen Entscheidung. Der 30-jährige Benni Over, der aufgrund einer Muskelschwunderkrankung auf künstliche Beatmung angewiesen ist, wurde vorzeitig geimpft nachdem sich seine Eltern in zahlreichen Briefen an Politiker gewendet haben. So viel Kraft, Zeit und Aufwand können aber nicht alle Betroffenen investieren, sagt Simone L. Wie so oft während der Pandemie gäb es seitens der Politik zu wenige Informationen, bemängelt sie.


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Antworten liefert auf lokaler Ebene das Nürnberger Impfzentrum. Eine Antrag auf eine Einzelfallentscheidung hätte es bislang nicht gegeben, heißt es. Mitte Januar veranlasste das Bayerische Gesundheitsministerium bereits, dass Menschen mit Behinderung und Pflegebedürftige in ambulant betreuten WG‘s in die Impfgruppe 1 vorgezogen werden.

Vakzinlieferungen "dynamisch"

Betroffene Personen die Zuhause wohnen, können sich regulär über die Vergabeplattform für einen Impftermin registrieren und dort ihre Vorerkrankungen angeben – im Anschluss werde von den Verantwortlichen vor Ort anhand der vorgegebenen Maßgaben über eine frühere Impfung entschieden. Auch eine telefonische Anmeldung sei laut Impfzentrum möglich.

Beim Impftermin selbst sind dann ärztliche Dokumente nötig, welche die angegebenen Vorerkrankungen bestätigen. Die Impfplanung sei derzeit sehr flexibel, "da der Umfang der Impfstofflieferungen sich in einer dynamischen Lage befindet", so das Nürnberger Impfzentrum.


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"Das sind die Infos, die uns gefehlt haben", freut sich Simone L. Sie werde sich zeitnah bei ihrem zuständigen Impfzentrum melden und hoffe auf eine baldige Impfung. "Jetzt heißt es Daumen drücken", sagt sie.

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