Nun wird abgebaut

Absage der Weihnachtsmärkte in Erlangen: Tränen und Schockstarre bei den Schaustellern

19.11.2021, 17:45 Uhr
Die Absage aller Weihnachtsmärkte aufgrund der Corona-Pandemie hat zu Entsetzen bei den Schaustellern geführt. Viele sind in ihrer Existenz bedroht.

© Hans-Joachim Winckler, NN Die Absage aller Weihnachtsmärkte aufgrund der Corona-Pandemie hat zu Entsetzen bei den Schaustellern geführt. Viele sind in ihrer Existenz bedroht.

Es ist früher Nachmittag, als Jutta Kunstmann die Tränen kommen. Grad eben erst haben sie den Lieferwagen bis zu ihrer hübsch dekorierten Holzbude auf den Schlossplatz gefahren, es stapeln sich kistenweise frische Plätzchen auf der Ladefläche. Jutta Kunstmann steht im Verkaufsbereich, oder besser: sie lehnt. Zum Stehen fehlt ihr gerade jede Kraft.
Dort, wo eigentlich die Kunden ihre Köpfe in den Laden stecken, haben sie eine schwarze Plastikplane gespannt. Die wollten sie spätestens am Montag, zum Auftakt des Weihnachtsmarkts, einrollen, wenn die Kinder kommen mit ihren Mamas und Papas, die Omas, die Opas, die Freunde, die sich schon lang nicht mehr gesehen haben, die Pärchen und die Ehepaare, die sich vielleicht hier irgendwo einst kennen lernten bei dampfenden Bratwürsten aus der Semmel, einem duftenden Glühwein und der Weihnachtsmusik. Doch wenn sie die Plane einrollen, dann heuer nur, um wieder abzubauen. Nun schützt die Plane immerhin Jutta Kunstmann vor den Blicken der Stammkundschaft, die vereinzelt um die geschlossenen Buden zieht auf der Suche nach Antworten auf die Frage, die auch Jutta Kunstmann so quält: „Und was jetzt?“

Bangen ist vorbei

Alle Weihnachtsmärkte in Bayern hat die Staatsregierung abgesagt, somit auch die in Erlangen. „Das Bangen“, sagt Jutta Kunstmann, „ja, das ist vielleicht das einzig Gute: Dieses Bangen ist jetzt vorbei.“

Die alarmierende pandemische Lage lässt selbst Märkte unter freiem Himmel nicht zu, hat Ministerpräsident Markus Söder kurz zuvor bei einer denkwürdigen Pressekonferenz mitgeteilt. Für die Kinder, die Eltern, die Omas und Opas, die Freunde, die Arbeitskollegen bedeutet das, dass der alljährliche Glühwein, der vielleicht zu einer schönen Tradition geworden ist, heuer eben zu Hause getrunken werden muss. Für Schausteller wie Jutta Kunstmann und ihre Tochter, die gerade die Plätzchenkisten wieder zurück ins Auto trägt, ist es eine Katastrophe.

Nächste Stufe Höllenritt

Die nächste Stufe eines Höllenritts, wie Kunstmann sagt, der seit Ausbruch der Corona-Pandemie, ihren Berufsstand mit entsetzlicher Wucht getroffen hat. Wieder bedeutet es: Alles Hoffen, alle Mühe, alle Einkäufe waren umsonst. Von den frischen Tannenzweigen für fast 1000 Euro als Dekoration bis zu den dutzenden Nutella-Gläsern oder die Plätzchenkisten. Alles eingekauft für über 6000 Euro. „Was mache ich jetzt damit?“, fragt Kunstmann. „So, wie sie mich jetzt sehen“, sagt sie und tupft sich immer neue Tränen mit einem Geschirrtuch aus dem Gesicht, „haben mich noch nicht viele Menschen gesehen.“

Leere Blicke, leere Gläser

Ein paar Hundert Meter weiter, auf dem Mittelaltermarkt, haben sich ihre Schwester Sabine Kunstmann und eine Hand voll Marktstandbetreiber vor dem Glühweinhäuschen gesammelt. Die Blicke sind leer, die ersten Tassen auch. „Es ist ein Schock“, sagt Sabine Kunstmann. Erst am Morgen hatten sie noch mit einem Mitarbeiter der Stadtverwaltung die gut 400 Meter Bauzaun begutachtet, die den Mittelaltermarkt zum 2G-Mittelaltermarkt gemacht hätte. Sie haben die Schilder mit den Abstands- und Hygieneappellen vorgeführt, die Abstände zwischen den Buden nachgemessen und vielleicht zum x-ten Mal ihre Impfnachweise vorgezeigt. „Wir sind, so wie wir hier stehen, startbereit“, sagt Sabine Kunstmann.

Luigi Particolare-Kunstmann (im Stapler) und Jürgen Segitz werden den mittelalterlichen Weihnachtsmarkt wohl gleich wieder abbauen müssen.

Luigi Particolare-Kunstmann (im Stapler) und Jürgen Segitz werden den mittelalterlichen Weihnachtsmarkt wohl gleich wieder abbauen müssen. © Christoph Benesch, NN

Doch dann wurde ihnen mit dem Finger auf dem Startknopf der Stecker gezogen. Die Pressekonferenz aus der Staatskanzlei haben sie übers Handy verfolgt. Sabine Kunstmann zieht die Schultern hoch, auch ihre Augen - selbst wenn sie sehr tapfer dagegen ankämpft - sind längst feucht geworden: „Es tut weh.“

Verlust von Geld und Freude

Dabei schmerzt, das merkt man bald, den vielen Schaustellern die Absage nicht nur aufgrund des immens hohen wirtschaftlichen Verlustes. Das Weihnachtsmarktgeschäft ist im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtig für die Familien, sie nennen es ihr Wintergeld. Bis April oder Mai liegt die Saisonarbeit in normalen Jahren brach, der Gewinn mit Glühwein und Bratwurst muss reichen, um die Kühlschränke zu füllen, die Reparaturen und die Investitionen zu bezahlen, die Kredite abzustottern. Nun schmerzt noch vielmehr, dass die Absage so kurz vor der Erlösung kam. Nach zwei Jahren ohne Arbeit, ohne Kirchweihen und Volksfeste, ohne Arbeitsgrundlage.
„Es geht da nicht nur um eine Bergkirchweih“, hat Jutta Kunstmann vorn am Schlossplatz schon gesagt, als sie meinte, sich für ihre Tränen entschuldigen, sie erklären zu müssen. „Das ist unsere Existenz.“ In der sechsten Generation ist die Familie Kunstmann Schausteller, „das ist Familiengeschichte. Das ist unser Leben.“

Am Mittelaltermarkt kann auch Luigi Particolare-Kunstmann nicht mehr nur still daneben stehen und in seinen Glühwein-Becher starren. Er hat in die Schaustellerfamilie eingeheiratet. Als der Schwiegervater starb, übernahm er mit seiner Frau den Autoscooter. Zur Bergkirchweih verschenkt er bedürftigen Kindern gern Fahrchips, manchmal so viele, dass seine Frau ihn ein wenig schimpft. „Was wir den Menschen hier verkaufen, das ist nicht nur eine Bratwurst oder ein Becher Glühwein. Das ist ein Stück Glück“, sagt er. Glück und Freude. Zwei Dinge, die gerade jetzt, in der Pandemie, so dringend jeder von uns bräuchte.

Von der Politik verlassen?

Auch Luigi Particolare-Kunstmann ist verzweifelt. Er fühlt sich von der großen und kleinen Politik verlassen. „Heute Abend in Augsburg rennen Tausende ins Fußballstadion - aber hier, unter freiem Himmel, hier soll niemand kommen dürfen?“ Dutzende rumänische Arbeiter hatten sie wieder anreisen lassen. „Wir waren mit einigen sogar noch beim Impfen“, verrät Particolare-Kunstmann. „Jetzt müssen wir sie wieder heimschicken - ohne Lohn.“

Es wird einige Schausteller geben, sagt Sabine Kunstmann, für die die Absage das endgültige Aus bedeutet. „Wir Kunstmanns“, sagt sie tapfer, „uns haut so schnell nichts um. Wir stehen das durch.“
Die Frage ist vielmehr: Wie lange noch? Die angekündigten Hilfen, sagt sie, die kämen schon. Vielleicht im April? Vielleicht im Mai? Das Wintergeld, es kommt im Frühling. Wie es jetzt weitergeht? Sabine Kunstmann weiß es nicht. Auch die Eisbahn wird wieder abgebaut, „Wir hätten uns alle eine andere, möglichst normale Vorweihnachtszeit gewünscht“, sagt Oberbürgermeister Florian Janik. „Doch die zunehmend dramatische Situation in den Krankenhäusern lässt uns keine Wahl.“

Irgendwie weiter

Auch bei Jürgen Segitz wird es weitergehen, irgendwie. Vor einem Jahr hat er erst seine Altersvorsorge angezapft, Segitz wird nun auf Kirchweihen arbeiten bis er 70 ist. „Aber von irgendwas müssen wir doch leben“, sagt er. „Nein, es kann ja niemand etwas dafür, wir nicht - und die Menschen, die sich anstecken, ja auch nicht“, findet Sabine Kunstmann. Vielleicht, das sagt sie nicht, ist es genau diese Tatsache, die es noch schwieriger macht.

Was die Kunstmanns, die Segitz‘ und all die anderen jetzt stattdessen am Montag machen? „Wahrscheinlich das alles abbauen“, sagt Segitz. Er lässt seinen Blick über die geschlossenen Buden schweifen. Der Wind spielt dazu mit den fröhlich-bunten Stoffwimpeln, die sie noch über den Kirchplatz gespannt haben. Zum Weinen, sagt Jürgen Segitz, sei ihm zumute. Aber auch er bleibt tapfer. „Das mache ich erst heute Abend im Bett, wenn das Licht aus ist.“

So ist die Lage im Landkreis Erlangen-Höchstadt

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