Erlanger Politologe

Corona, Issues, Kandidaten: So einen Bundestagwahlkampf gab es noch nie

10.9.2021, 14:30 Uhr
Auch die Zahl der Briefwahlwähler wird, so schätzen Experten, bei der Bundestagswahl 2021 zunehmen. 

© Sven Hoppe, dpa Auch die Zahl der Briefwahlwähler wird, so schätzen Experten, bei der Bundestagswahl 2021 zunehmen. 

Herr Winkelmann, Sie kennen sich mit der Parlamentarischen Nachkriegsgeschichte aus: Haben sich vor einer Bundestagswahl schon einmal zwei Kandidaten wenige Wochen vor der Abstimmung selbst so demontiert wie das Annalena Baerbock und Armin Laschet machen?

Das gab es so noch nicht. Aber wir müssen da auch Veränderungen im Wahlverhalten berücksichtigen. Das Wahlverhalten selbst wird durch drei Faktoren bestimmt: eine langfristig affirmative Bindung an eine Partei, die oft von der Sozialisation geprägt ist und zur Stammwählerschaft führt. Dieser Faktor nimmt aber immer mehr ab zu Gunsten der anderen beiden, nämlich der Themen oder auch Issues und der Spitzenkandidaten. Diese Entwicklung, die wir schon seit geraumer Zeit beobachten können, nimmt jetzt, da kein Amtsinhaber antritt, noch zu. Das Auf und Ab in Umfragen nimmt ebenfalls zu, aber das sind nur Momentaufnahmen, die sich morgen auch wieder radikal ändern können.

Wie bei der Grünen-Spitzenkandidatin Annalena Baerbock?

Genau, die Grünen haben sich schon im Kanzleramt gesehen und müssen jetzt wahrscheinlich doch wieder kleinere Brötchen backen. Ähnlich bei der Union unter Laschet, er hatte die Strategie, im Schlafwagen ins Kanzleramt zu fahren - auch das hat nicht funktioniert.

Und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, macht er auf Merkel und versucht, möglichst keine Ecken und Kanten zu zeigen und räumt deshalb bei den Umfragen so ab?

"Die Bundestagswahl wird im Grund eine Wahl sein, durch die das Ende der Volksparteien eingeleitet wird", sagt der Erlanger Politikwissenschaftler Thorsten Winkelmann 

"Die Bundestagswahl wird im Grund eine Wahl sein, durch die das Ende der Volksparteien eingeleitet wird", sagt der Erlanger Politikwissenschaftler Thorsten Winkelmann  © FAU/Giulia Iannicelli, NN

Ja, unter den Blinden ist der Einäugige bekanntermaßen der Sehende, das heißt, die Stärke von Olaf Scholz erklärt sich für mein Dafürhalten nahezu ausschließlich aus der Schwäche der Konkurrenz. Das ist keine eigene Stärke, die wir da sehen, sondern es ist zunächst erst einmal eine ganz klare Schwäche der Grünen und vor allem der Union mit ihrem Spitzenkandidat Armin Laschet. Scholz präsentiert sich als eine Art in Anführungszeichen männliche Merkel, ruhig, alles ist bei ihm sehr stark mit Krisenmetaphern versehen. Er kommt da ruhig und bedächtig daher und strahlt eine gewisse Seriosität aus, was sicherlich ein Stück weit anziehend wirkt.

Sie haben die Krisen ja erwähnt. In der Regel gehen ja Politiker in solchen Situationen eher gestärkt in Wahlen, diesmal ist bei Baerbock und vor allem Laschet das Gegenteil der Fall. Gab es so etwas denn schon einmal?

Das Krisenmanagement von Ministerpräsident Laschet in NRW, sowohl bei der Corona-Pandemie als auch vor allem beim Hochwasser, wurde mehrheitlich nicht wirklich positiv wahrgenommen, bewertet. Es stimmt schon, dass Krisen immer auch Personen im Amt immer ein Stück weit mit einem Bonus ausstatten, aber man kann halt in einer Krise auch viel verkehrt machen und das straft der Wähler dann letztlich ab. Es kommt noch dazu, wie die Krise und ihr Management medial aufbereitet werden, und die öffentliche Darstellung des Krisenmanagement von Armin Laschet war, vorsichtig formuliert, verbesserungswürdig.

Armin Laschet sieht ja laut Umfragen sogar die Hälfte der Unionsanhänger als nicht geeignet. Gab es so etwas schon?

Das gab es schon in den 1970-er und 1980-er Jahren bei Helmut Kohl. Kohl hat dabei sehr viel in die Pflege seiner Bekanntschaften innerhalb der Partei gesteckt, das konnte jetzt Laschet in dem Umfang nicht machen, weil die Nominierung und der Wahltermin sehr eng beieinander lagen. Er konnte die Basis nicht hegen und pflegen und Unterstützer sammeln. Wäre es Markus Söder gewesen, wäre möglicherweise die andere Hälfte der Union unzufrieden mit dem Kandidaten.

Sie sagen, Themen sind wichtig und die sind ja eigentlich vorhanden, ob es Afghanistan oder Corona ist, aber dennoch hat man den Eindruck, der Wahlkampf wabert vor sich hin und es interessieren sich nicht viele dafür.

Genau. Was man beobachten kann, ist dass interessanterweise Themen eine untergeordnete Rolle spielen im aktuellen Wahlkampf. Das ist ja sehr beachtlich. Wir stehen vor beachtlichen Herausforderungen, das ist nicht nur das große Klimakrisenthema, sondern es geht auch um die Digitalisierung, Mobilität oder den Aufbau von Infrastrukturen. Das sind alles wirklich große Fragen, aber parteiübergreifend hat man da letztlich nur Allgemeinplätze im Angebot. Wirklich konkret wird keiner, das ist möglicherweise auch eine Strategie im Wahlkampf,

Inwiefern?

Man verbleibt bewusst im Nebulösen in der Hoffnung, keinen zu verprellen. Wenn man sagen würde, wir wollen jetzt nur E-Mobilität, dann würden es sich die Grünen mit den Autofahrern verscherzen. Man versucht im Grund genommen einen Wahlkampf für alle zu machen, wo dann letztlich keiner angesprochen wird. Es ist auch eine Angleichung bei der Programmatik, die letztlich keine Unterscheidung mehr zulässt. Wenn dann die traditionelle Bindung und das Programmatische wegfallen, werden die Akteure immer wichtiger.

Und alles zentriert sich dann etwa auf Annalena Baerbock, die schnell entzaubert wurde. Kann da ein Robert Harbeck, der zum Wahlkampfauftritt auch mit Erlangen in die Region kommt, da noch Boden wett machen?

Das ist eine Umstellung der Wahlkampfstrategie im laufenden Wahlkampf. Das haben wir in der Vergangenheit schon öfter gesehen. Wenn der Kandidat nicht ankommt oder beim Volk nicht beliebt ist, dann versucht man, den Kandidaten in den Hintergrund zu stellen, um entweder programmatische Aussagen zu plakatieren oder um eine Mannschaft zu präsentieren. Das war 1994 beim SPD-Kandidaten Rudolf Scharping der Fall: Man hat dann das Triumvirat mit Schröder, Lafontaine und Scharping ins Zentrum gerückt. Vergleichbar auch bei Edmund Stoiber, als er 2002 den Wahlkampf bestritten hat. Der Unionskandidat kam vor allem bei jüngeren Frauen in den Neuen Bundesländern nicht an, dann hat man versucht, ihn weich zu zeichnen als gutmütigen Opa mit seiner Familie und seine Ecken und Kanten zurückzunehmen. Das Gleiche sehen wir jetzt bei den Grünen, denn außerhalb der Stammwählerschaft kann Annalena Baerbock eigentlich kaum Wähler mobilisieren.

Deshalb sagen die Grünen jetzt, wenn sie nicht mitregieren, werden wir die Klimakatastrophe nicht bewältigen können und die Union warnt vor dem Linksruck. Ist das die Strategie?

Genau, Wählermobilisierung funktioniert ja vor allem durch Abgrenzung und einer Politisierung von Risiken. Bündnis90/Die Grünen sind ja durch diese Verfahrensweise erst groß geworden, wie Waldsterben, Ozonloch oder Nato-Doppelbeschluss. Ähnlich bei der Union: Das konservative Lager wurde sehr stark durch die an die Wand gemalte Gefahr durch Kommunisten. Die rote Gefahr aus dem Osten hat das Lager zusammenschweißen können und das funktioniert auch nach dem Untergang des real existierenden Sozialismus. Gucken wir uns die Rote-Socke-Kampagne an, auch wenn das nicht mehr so mobilisiert wie in der Vergangenheit, kann es doch noch einen Schub verursachen.

Jetzt ist der Wahlkampf ja ohnehin ungewöhnlich, welche Rolle spielt da denn Corona? So etwas gab es ja noch nie.

Nein, aber möglicherweise ist Corona ein Beschleuniger eines Trends, der schon längere Zeit im Unterbewussten wabert. Wir haben Wahlkämpfe gesehen, bei denen ein Kandidat vor Massen auf dem Marktplatz auftritt. Das gibt es jetzt im engeren Sinne nicht oder nur sehr bedingt mit Abstand. Möglicherweise sind das auch Formate, die es zwar weiterhin geben wird, aber an Bedeutung verlieren. Diese Face-to-Face-Massenveranstaltungen dürften weniger werden, natürlich jetzt vor allem durch Corona bedingt. Aber die Parteien müssen sich wahrscheinlich auch darüber hinaus überlegen, wie man einen modernen Wahlkampf jenseits von solchen klassischen Formaten führt.

Weil Jüngere nicht zu einem vorgegebenen Zeitpunkt an einem bestimmten Ort sein wollen?

Genau. Sich irgendwo auf dem Marktplatz einzufinden, um die Worte von Christian Lindner zu lauschen, das dürfte für die Jugend oder Erstwähler nicht das Format sein, was man sich so wünscht. Ältere, die das schon immer so machen, werden vielleicht hinpilgern. Aber die Parteien müssen sich auf Veränderungen einstellen, wie man Wahlbotschaften, also Messages, ans Volk bringt, da sind die tradierten Formate ein Stück weit ein Auslaufmodell. Jubelveranstaltungen mit Klatschen bis zur Ohnmacht ist wirklich Retro.

Es wäre ja positiv zu sehen, wenn sich wirklich alle mit Fakten und Informationen versorgen würden, aber leider sind es im Internet oft Fake News und Desinformation. Da wäre es fast besser, man würde bei der Retro-Veranstaltung bleiben.

Auch in der Vergangenheit haben Parteien mit sehr eingeschränkten Wahrheiten hantiert. Was Sie beschreiben, ist ein Phänomen, das man wirklich ernst nehmen muss. Aber die Probleme liegen möglicherweise woanders. Gerade in den sozialen Medien findet kein parteiübergreifender Austausch und keine Diskussion mit Pro und Contra statt, sondern wirkt aufgrund von bestimmten Algorithmen eher wie eine Echokammer. Dort wird die eigene Meinung nur verstärkt und konträre Auffassungen gar nicht mehr berücksichtigt. Dabei entsteht das Gefühl, dass das, was man denkt, auch das einzig Richtige ist.

Sie haben gesagt, Politikerinnen und Politiker meiden klare Aussagen und bleiben im Ungefähren. Liegt das auch daran, dass sie gerade mit Blick auf diese Echokammern keine Angriffsfläche bieten wollen?

Da sind mehrere Lesarten denkbar. Die Politiker versuchen einen Shitstorm zu vermeiden und deshalb bleiben sie im Allgemeinen und Vagen. Das ist menschlich und aus Sicht der Wahlkampfkampagne nachvollziehbar. Ich könnte mir aber vorstellen, dass die Bevölkerung auch Standhaftigkeit honoriert. Man muss nicht vor irgendwelchen Aktivisten und irgendwelchen Wüterichs gleich kapitulieren. Standhaftigkeit ist eine Sache, die immer wichtiger wird. Aber da man die Dynamiken nicht abschätzen kann, versucht man im Allgemeinen zu bleiben und keinen zu vergraulen. Das ist auch ein postmoderner Wahlkampf: Schön allgemein, wenig konkret, damit sich ja keiner auf den Schlips getreten fühlt. Dadurch wird es auch ein Stück weit beliebiger.

Was wiederum in der Bevölkerung auch nicht gut ankommt.

Natürlich, man kann nichts mehr unterscheiden, man empfindet es als Einheitsbrei und bestärkt damit jene an den Rändern, die genau das kritisieren.

Also Corona-Leugner, die Angriffe auf Politiker starten sowie Rechts- und Linksaußen?

Ja. Was deutlich zugenommen hat und das belegen die Statistiken zu politisch motivierten Straftaten, ist, dass es bei verbalen Angriffen nicht bleibt. Das ist der Nährboden, die tätliche Angriffe begünstigen, es kommt zu Attacken gegen Personen und Wahlkreisbüros. Es sind Straftaten, die zunehmen.

Und zum Teil so weit führen, dass der frühere Flüchtling und Grünen-Bundestagskandidat Tareq Alaows nach Drohungen seine Kandidatur zurückgezogen hat.

Genau, und das ist der Punkt, wo nicht nur Polizei und Staatsanwaltschaft aufstehen müssen, sondern auch die Zivilgesellschaft. Solche Phänomene dürfen in einer Demokratie nicht toleriert werden. Da ist auch die Frage: Wie viel Toleranz lassen wir gegenüber Intoleranz walten?

Ungewöhnlich ist auch, dass viele zur Briefwahl greifen werden, sind dann die Umfragen doch keine Momentaufnahmen, weil die Befragten jetzt wählen?

Mit dieser Annahme wäre ich vorsichtig. Wir sehen im Rahmen der empirischen Wahlforschung, dass nicht alle repräsentativ Briefwahl machen, sondern nur einzelne Gruppen, das sind vor allem ältere Bevölkerungsschichten. Personen zwischen 30 und 50 machen weniger Briefwahl. Was man aber sieht: Auch bei der Briefwahl ist Corona ein Trendbeschleuniger. Wir haben einen Anstieg von Briefwählern bereits vor Corona bemerkt, die Pandemie hat das noch beschleunigt. Früher war der Wahlsonntag eine Art Familienausflug, den Wahltag als Festakt zu zelebrieren, das nimmt immer mehr ab.

Wird es denn wieder wie 2017 bis März dauern, bis es eine Regierung gibt?

Die letzte Regierungsbildung war insofern eine Ausnahme, weil die Union zunächst mit anderen Koalitionspartnern verhandelt hat, woraus letztlich keine arbeitsfähige Regierung entstanden ist und man mit der SPD verhandeln musste. Man muss erst das Wahlergebnis abwarten und dann sehen, wo es die größeren inhaltlichen und personellen Übereinstimmungen gibt.

Apropos personell: Werden wir dann Noch-Kanzlerin Merkel vermissen?

Das ist eine schwierige Frage, die man nicht objektivieren kann. Sicherlich, nach 16 Jahren Regierung und angesichts der Krisen hat Frau Merkel ihren Ruhestand verdient. Ob man sie vermissen wird, ist dann Frage der Geschichtsschreibung. Helmut Kohl jedenfalls wurde nach 16 Jahren nicht vermisst.

Und was wird der Historiker von der Bundestagswahl 2021 sagen: Wird sie als Corona-Wahl oder als Wahl der unglücklich agierenden Kandidaten in die Annalen gehen?

Die Bundestagswahl wird im Grund eine Wahl sein, durch die das Ende der Volksparteien eingeleitet wird. Dass Parteien 30 Prozent und mehr der Stimmen erhalten, dürfte der Vergangenheit angehören. Somit werden Große Koalitionen, bestehend aus SPD und Union, auch gar nicht mehr groß sein, weil sie nur noch knapp 50 Prozent der Stimmen erhalten - wenn überhaupt.

Zur Person:

Der Politologe Thorsten Winkelmann (40) studierte Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehrer an der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-Nürnberg und ist am dortigen Institut für Politische Wissenschaften wissenschaftlicher Mitarbeiter mit den Schwerpunkten Politische Systeme, Wahlen, Infrastrukturpolitik und politischer Extremismus. Der gebürtige Sachsen-Anhaltiner, der im Zweiwohnsitz in Erlangen lebt, ist verheiratet und treibt gerne Sport.

Verwandte Themen


Keine Kommentare