Umgeschnallte Bauchläden und Spicker

Wieder Schlangen vor Forchheims Einwohnermeldeamt: Eine Leser-Glosse

6.10.2021, 12:52 Uhr
Im Sommer vor dem Forchheimer Einwohnermeldeamt. NN-Leser Matthias Mohr stellt sich vor, wie sich beim in der Schlange stehen Unglaubliches zuträgt. Fast im Minutentakt. Und ganz nebenbei entsteht aus der Notsituation eine noch lebendigere Innenstadt - kreativen Ideen sei Dank.

© Archivfoto: Ulrich Graser Im Sommer vor dem Forchheimer Einwohnermeldeamt. NN-Leser Matthias Mohr stellt sich vor, wie sich beim in der Schlange stehen Unglaubliches zuträgt. Fast im Minutentakt. Und ganz nebenbei entsteht aus der Notsituation eine noch lebendigere Innenstadt - kreativen Ideen sei Dank.

Notöffnungszeiten gelten seit Ende Juli im Forchheimer Einwohnermeldeamt, zuvor war die Behörde kurzzeitig komplett geschlossen. Nun bildete sich wieder eine lange Schlange vor dem Einwohnermeldeamt in der Forchheimer Innenstadt. NN-Leser Matthias Mohr aus Forchheim hat die Situation humorvoll und kreativ in einer Glosse aufgegriffen:

Die echten Forchheimer wissen: Wo es etwas umsonst gibt, steht man Schlange. Steht? Naja. Nachdem der Festbürgermeister Schönfelder sich der Sache angenommen hat, gibt es Sitzgelegenheiten im Schatten renovierungsbedürftiger Fachwerkhäuser. Beispielsweise in solchen, in denen das Einwohnermeldeamt untergebracht ist.

Auf Fatboys (wörtlich aus dem Englischen für "fette Jungs", gemeint sind aber dicke Sitzkissen) lümmeln schon ab 8 Uhr Menschenmengen in gemütlicher Aufreihung. Die Annafest-Buden sind auf den Rathausplatz und in die Sattlertorstraße abgewandert, weil sich hier schon ab 8.15 Uhr - noch vor den Notöffnungszeiten - die Menschen begegnen. Endlich Leben in der Altstadt.

8.25 Uhr: Der Musikverein Buckenhofen steht mit einer Abordnung der Jugend bereit, um der Forchheimer Gemütlichkeit beizusteuern.

8.27 Uhr: Gewiefte Schüler bieten den Wartenden für ein moderates Entgelt ihre Dienste an, um nach 30 Minuten die Brötchentaste zu drücken und den sich um 8.35 Uhr umherschleichenden Mitarbeitern des Ordnungsamts zu entgehen. Wohl dem, der ein Fahrrad sein Eigen nennt.

8.37 Uhr: Der Wirt vom Neder säubert schon mal die Tische für den Ansturm, der vom Amtsschimmel geschwächten Einwohner.

8.39 Uhr: Den ersten Langparker hat’s erwischt.

8.42 Uhr: Die entspannte Schlange reicht bis zur Kaiserpfalz, jetzt werden die Sitzplätze langsam eng. Was aber nicht auf die Stimmung schlägt. Alle fünf Minuten bewegt sich die Polonaise einem lang erhofften Ziel entgegen.

8.46 Uhr: Die Glocken von St. Martin stimmen eine fröhliche Weise an. Die Menschen jubeln. Der ein oder andere richtet ein Stoßgebet gen Himmel.

8.47 Uhr: Die ersten Touristen mustern ungläubig die Feiernden und gehen kopfschüttelnd vorbei.

8.48 Uhr: Die Konditorei-Nagel-Mitarbeiter kommen mit umgeschnallten Bauchläden vorbei und bieten Kaffee und belegte Brötchen an.

8.49 Uhr: Die wartenden werfen nun Pfeile der Spickerbude quer über die Straße, da sie ihren Platz nicht aufgeben wollen.

8.50 Uhr: Die von der Stadt eingesetzte Security prüft, ob auf der Straße auch den Hygienevorschriften eingehalten werden. Vielleicht auch, ob sich bis 11.30 Uhr die Ansammlung auflösen lässt oder man jetzt schon eingreifen muss.

8.55 Uhr: Unklar ist, warum die Eisdiele immer noch nicht offen hat.

8.57 Uhr: Die ersten Menschen starten Dehnübungen, um sich auf den baldigen Aufstieg der Treppen zum Ziel vorzubereiten und nicht vollständig der Lethargie zu verfallen.

9.00 Uhr: Ein völlig entspannter Mittdreißiger schlendert entlang der Menge und beginnt ein Gespräch mit einer Mutter, die seit Stunden ihr Neugeborenes in ihrer Babytrage mit sich trägt.

9.03 Uhr: Die Menge staunt. Immer wieder verlassen Menschen mit Papieren in Klarsichthüllen das Ziel - direkt durch den Eingang – Wahnsinn!

9.05 Uhr: Die Stimmung steigt - aus dem offenen Fenster klingt der melodische Dreiklang, der Blick unwillkürlich zum Fenster und auf den Monitor gerichtet. Spricht da gleich der Weihnachtsengel seinen Prolog?

9.06 Uhr: Bereits elf Parteien konnten ihr Ziel erreichen, glaubt man der Anzeige.

9.09 Uhr: Der erste Mitarbeiter der Eisdiele schlendert heran.

9.10 Uhr: Der blaue Himmel verdunkelt sich. Die ersten Gewitterwolken ziehen auf.

9.11 Uhr: Das öffentliche WLAN am Rathausplatz bricht zusammen. Zu viele streamen "Deutschland – deine Ämter (1997)"

9.13 Uhr: Eine Dame drängelt sich vorbei und meint, wer etwas abholen will, muss nicht in der Schlange warten, sondern darf rein. Nichts passiert.

9.15 Uhr: Die Security ruft von den Stufen: "Wer hoch will, muss nicht in die Schlange" und nimmt die Dame mit rein.

9.17 Uhr: Die Umstehenden, die sich bereits seit 50 Minuten vergnügen, geraten in Wallung!

9.18 Uhr: Den Security-Mann auf den Missstand angesprochen, bietet er Wasser aus einer Kiste an, die der Bürgermeister am Vortag der Menge gestiftet hat.

9.20 Uhr: Der Security-Mann erläutert einige Maßnahmen die aufgesetzt wurden, aber sich nicht als effektiv herausgestellt haben.

9.25 Uhr: Er versucht die Umstehenden bei Laune zu halten und die Stimmung zu heben, die in den letzten Minuten abgeebbt ist.

Es wird lauthals über "Die da oben" geschimpft - "Abwählen sollte man die." Der Security-Mann nimmt die Mitarbeiter in Schutz, die gar nichts dafür könnten und mehr als ihre Arbeit täten.

9.28 Uhr: Eine weitere vorgezogene Abholerin wird hineingelassen.

9.29 Uhr: Die Dame vor mir schüttelt nur noch den Kopf.

9.35 Uhr: Die Frage kommt auf, ob die Menschen hier überhaupt Arbeit hätten, oder warum sie es sich sonst leisten können, an einem Freitagmorgen hier zu sein.

9.36 Uhr: Die Schwelle ist überschritten.

9.38 Uhr: Die Menschen müssen Zettel ausfüllen, um sicher zu gehen, dass sie auch ins Reich eingelassen werden. Und: Die Hände desinfizieren nicht vergessen!

9.39 Uhr: Ein warmer Sitzplatz und eine Nummer – bereit fürs Bingo!!!

9.47 Uhr: Zwei von fünf Schaltern belegt. Geduld ist eine Tugend heißt es.

9.48 Uhr: Draußen steigt die Party weiter. Warten auf den Regenguss.

9.51 Uhr: Bingo!!!

9.54 Uhr: Gut gelaunte und äußerst freundliche Mitarbeiterin "Reisepass für die Tochter abholen? Können Sie sich ausweisen? Ich muss sicherstellen, dass Sie der Vater sind."

9.55 Uhr: Klar, ich stelle mich eineinhalb Stunden in eine Schlange und. . . Ja, hier, bitte, der Ausweis.

9.57 Uhr: Glück ist, ein Amt erfolgreich zu verlassen.

9.58 Uhr: Jetzt ein Bier.

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