Gunzenhausen: Digitales Gedenken an den Blutigen Palmsonntag

27.3.2021, 08:01 Uhr
Gunzenhausen: Digitales Gedenken an den Blutigen Palmsonntag

© Foto: Jürgen Eisenbrand

Ihr Nachbar Max Rosenau, der in der Burgstallstraße wohnte, sei an diesem Abend, gejagt von einem hasserfüllten SA-Mob, derart in die Enge getrieben worden, dass er sich selbst ein Messer fünf Mal in die Brust rammte. "Am nächsten Morgen klopfte es an unserer Tür", erzählte Suzanna Reider. Es war jedoch nicht die SA, sondern der jüdische Lehrer. "Er sagte, mein Vater solle mitkommen, um bei der Bestattung der beiden Toten zu helfen. Das war gefährlich, und ich war sicher, dass ich ihn nie wiedersehen würde."

Nach dem Pogrom, bei dem auch der damals 30-Jährige Konditor Max Rosenfelder ermordet wurde, "wollte mein Vater Gunzenhausen verlassen. Wir haben ein Zertifikat gekauft, um nach Palästina zu gehen – und wir durften nichts dorthin mitnehmen."

Ein düstere Schatten

Seit Jahren erinnert die Altmühlstadt an diese Mordnacht, die, so Bürgermeister Karl-Heinz Fitz während der digitalen Gedenkstunde, der mehr als 80 Teilnehmer zugeschaltet waren, "noch heute einen düsteren Schatten auf die Geschichte unserer Stadt wirft". Viele Jahrhunderte hätten Christen und Juden hier "hervorragend zusammengelebt", nach dem Ersten Weltkrieg allerdings "begann ein schleichender Prozess, der die Juden immer mehr ausgrenzte". Und schon 1920 habe es erste Übergriffe auf die Synagoge, den Friedhof und jüdische Mitbürger gegeben.

Gunzenhausen: Digitales Gedenken an den Blutigen Palmsonntag

© Foto: Jürgen Eisenbrand

Grund dafür sei "die frühe Etablierung der NSDAP in Gunzenhausen" gewesen, so Fitz, was sich nach der Machtübernahme 1933 besonders bemerkbar gemacht habe. "Und dann geschah das Unfassbare", beschrieb der Rathaus-Chef die Tatsache, dass "ein großer Anteil der Bevölkerung vor die Häuser ihrer Nachbarn, Arbeits- und Vereinskollegen zog" und Jagd auf sie machte. Auf jene Menschen also, deren "Namen in der Stadt fest verwurzelt waren". Ihn berühre es stets tief, "wenn ihre Nachfahren nach Gunzenhausen kommen und von ihrem Schicksal erzählen.

Das war in diesem Jahr nun erstmals digital möglich – und wurde, moderiert von Netanel Yechieli, einem Urenkel des in Gunzenhausen tätigen Arztes Karl Rothschild, auch genutzt. Eingebettet zwischen dem Paul-Celan-Gedicht "Todesfuge" ("Der Tod ist ein Meister aus Deutschland"), das der 3. Bürgermeister Peter Schnell vortrug, der jüdischen Volksweise "Meine Sorgen", die Max Pfahler und seine Töchter Katharina und Christina berührend vortrugen, einem Vortrag von Stadtarchivar Werner Mühlhäußer über die Geschehnisse des 25. März 1934 und dem traditionellen jüdischen Kadish-Gebet, sprach etwa James Strauss über das Schicksal seiner Familie.

"Eine Reise, die unser Leben verändert hat"

Der Enkel des jüdischen Gastwirts Simon Strauss, der am "Blutigen Palmsonntag" schwer verletzt und im Juli 1934 ermordet wurde, "war immer neugierig auf Gunzenhausen gewesen", wie er sagt. 2015 habe er von der Arbeit Emmi Hetzners erfahren, die einen Lehrplan zur NS-Geschichte Gunzenhausens entwickelt habe – und er nahm Kontakt mit ihr auf. "Sie führte uns durch die Stadt, und ihre Schüler erzählten uns von dem Pogrom – so begann für mich eine Reise der Entdeckung." Eine Reise, fügte seine Ehefrau später hinzu, "die unser Leben verändert hat".


Schon seit Jahren wird in Gunzenhausen der schrecklichen Ereignisse gedacht, so auch im Jahr 2014


Shula Reinartz meldete sich spontan zu Wort, erzählte von ihrem Großvater, der den Mord an Simon Strauss unmittelbar miterlebte, und las eine Passage aus den Memoiren ihres Vorfahren. Der sei damals, ehe er Gunzenhausen verließ, von den Machthabern gezwungen worden, über das Verbrechen zu schweigen – um den Täter, den stadtbekannten Nazi Kurt Bär, zu schützen.

Immer wieder waren auf dem Computerbildschirm auch Beiträge im Chat zu lesen, in denen sich Teilnehmer der Gedenkstunde an die Gunzenhäuser Wurzeln ihrer Familien erinnerten. Andere dankten der Stadt für die würdige Art der Erinnerung, wieder andere für die "touching music" (die berührende Musik).

Ein emotionaler Höhepunkt war gegen Ende der 90-minütigen Zeremonie die Bitte um Entschuldigung, die Pfarrer Matthias Knoch formulierte. "Die meisten Christen erkannten damals in den jüdischen Bürgern dieser Stadt ihre Schwestern und Brüder nicht", sagte der Geistliche. Und fügte dann hinzu: "In Scham und Trauer stehen wir deutsche Teilnehmer vor Ihnen, den Nachfahren derer, die hier Übles erlebt haben, und bitten um Vergebung!"


Ein Projekt der Stephani-Schule informiert über das jüdische Leben in Gunzenhausen


Wenn er von Pogromen höre, wenn er in der Gedenkstätte Yad Vashem die Augen öffne, "dann explodiere ich vor Scham und Trauer, und ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Was geschah, nimmt mir den Zugang zu meiner Geschichte". Die Ruinen müssten bleiben, zeichnete er ein eindrucksvolles Sprachbild, "aber vielleicht kann zwischen ihnen ein Baum wachsen."

Die Gedenkstunde kann auf Youtube angesehen werden und zwar unter https://youtu.be/ikmDV4KfGWE

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