Eine ungewöhnliche Annäherung

Gunzenhausen: Jüdisch-deutsche Gruppe sucht den Dialog

13.10.2021, 06:01 Uhr
Annäherung der besonderen Art: Per Zoom-Konferenz trifft sich die deutsch-jüdische Dialoggruppe einmal im Montag.

© Screenshot: Stefan Mages, NN Annäherung der besonderen Art: Per Zoom-Konferenz trifft sich die deutsch-jüdische Dialoggruppe einmal im Montag.

Persönliche Gespräche und Beziehungen sind der beste Weg zur Verständigung. Das gilt für den zwischenmenschlichen Bereich ebenso wie zwischen den Völkern. In diesem Sinne agiert auch die jüdisch-deutsche Dialoggruppe, die sich seit Anfang des Jahres immer wieder per Zoom austauscht.

Frühzeitig traurige Berühmtheit erlangt

Mit dem Pogrom am Palmsonntag 1934 erreicht Gunzenhausen schon sehr frühzeitig traurige Berühmtheit, zum Ende des Zweiten Weltkriegs lebte kein einziges Mitglied der ehemals großen jüdischen Gemeinde mehr in der Altmühlstadt, viele ließen unter der nationalsozialistischen Herrschaft ihr Leben. Gunzenhausen steht für die in aller Welt verstreuten Nachkommen der hiesigen Juden denn auch nicht selten für "das Böse".

So zumindest die Erfahrung von Stefan Mages. Der Gunzenhäuser Psychotherapeut moderiert die Dialoggruppe für die deutsche Seite. Ins Leben gerufen worden ist sie aber von Netanel Yechieli. Dem Urenkel des in Gunzenhausen praktizierenden Dr. Karl Rothschild liegt die Geschichte seiner Familie, aber auch all der anderen, die während des Nationalsozialismus vertrieben und ermordet wurden, sehr am Herzen. 2016 besuchte Netanel Yechieli erstmals die Altmühlstadt und war sehr angetan von dem, was er hier vorfand: Eine große Bereitschaft, sich der Vergangenheit zu stellen, nicht zuletzt dank des von Emmi Hetzner betreuten Schulprojekts "Jüdisches Leben in Gunzenhausen".


Nachfahren der Rothschilds besuchten Gunzenhausen


Eine Annäherung zwischen den Nachfahren der ehemaligen jüdischen Mitbürger und Bürger Gunzenhausens, dieses Ziel hat denn auch die von ihm ins Leben gerufene Dialoggruppe, schildert Stefan Mages im Gespräch mit dem Altmühl-Boten. Was durchaus nicht selbstverständlich ist, denn, so der Diplom-Psychologe, für viele Familien ist eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte immer noch eine leidvolle Erfahrung.

Moderatoren strukturieren die Gespräche

Netanel Yechieli machte sich auf die Suche nach Nachkommen und fand schließlich in Israel und in den USA Menschen, die sich mit dem Gedanken des Dialogs anfreunden konnten. Doch wie beginnt man eigentlich so eine Gesprächsrunde? Struktur bringen hier die beiden Moderatoren hinein. Stefan Mages und Netanel Yechieli treffen sich jeweils eine halbe Stunde vor den Zoom-Konferenzen mit der ganzen Gruppe und bereiten ein Thema und vor allem eine konkrete Frage als Einstieg vor.


Ein wichtiges Projekt: Jüdisches Leben in Gunzenhausen


Auch wenn von vorne herein geklärt worden war, dass die Vertreter aus Gunzenhausen sich nicht als "Täterseite" identifizieren müssen - keiner von ihnen hat den Nationalsozialismus noch selbst erlebt -, so führte natürlich am Holocaust kein Weg vorbei. "Wann ist das Thema für dich zum ersten Mal präsent geworden?", wollten die beiden Moderatoren hier von den Gruppenmitgliedern wissen. Zu erwarten war dabei, dass die Gräueltaten der Nazis in vielen deutschen Familien totgeschwiegen wurden. Dass dies aber auch auf jüdischer Seite so war, verblüffte Stefan Mages durchaus. Doch gerade in Amerika - wo fünf jüdische Mitglieder der Dialoggruppe leben - habe man den Blick offenbar mehr in die Zukunft gerichtet.

Für andere war der Holocaust schon immer präsent. So präsent, dass sie noch heute nicht unter die Dusche gehen könne, ohne an die Gaskammern in den deutschen Konzentrationslagern zu denken, wie eine Israelin der Gruppe berichtet.

Eine Kiste mit alten Fotos

"Was verbindet uns mit Gunzenhausen", hieß es an einem anderen Abend, die beiden Moderatoren hatten dabei auch um Fotos gebeten. Dabei stellte sich heraus, dass James Strauss - der Enkel des jüdischen Gastwirts Simon Strauss, der am "blutigen Palmsonntag" schwer verletzt und im Juli 1934 ermordet wurde - eine ganze Kiste mit alten Fotos daheim hat. Darin fand er etwa die alte Postkartenansicht von Gunzenhausen mit dem öffentlichen Bad, das es früher an der Altmühl vor den Toren der Stadt gab. Dort hatten die Hitlerjungen die jüdischen Altersgenossen gerne und ausgiebig getaucht.


Das Gedenken an die Reichspogromnacht ist in Gunzenhausen selbstverständlich


Zu acht Sitzungen hat sich die Gruppe, zu der auf deutscher Seite 2. Bürgermeister Peter Schnell, Emmi Hetzner, Ingeborg Herrmann, Pfarrer Matthias Knoch, der Schriftsteller Thomas Medicus, der Konrektor der Stefani-Mittelschule Johannes Kergl und die Lehrerin Melanie Gerdes-Oeder gehören, getroffen, danach sollte das Projekt eigentlich abgeschlossen werden. Doch das Ziel der Dialoggruppe, die gegenseitige Annäherung, hat so gut funktioniert, dass alle weitermachen wollen. Zudem will die Gruppe nun über die monatlichen Treffen hinaus auch ganz konkret Projekte angehen.

Gedacht ist etwa an ein kleines Musuem am jüdischen Friedhof. Zudem ist ein echtes Treffen der Gruppe im Jahr 2023 zum Stadtjubiläum in Gunzenhausen geplant - so es die Coronasituation zulässt. Vor allem aber könnte sie ein Modellprojekt für weitere Dialoggruppen werden. Sei es in Gunzenhausen - etwa im Rahmen des Jugendaustauschs mit Rishon LeZion, sei es in anderen Kommunen. Bürgermeister Karl-Heinz Fitz soll das Projekt deshalb beim bayerischen Städtetag sowie dem bayerische Antisemitismus-Beauftragte Ludwig Spaenle vorstellen.

Für Stefan Mages ist die jüdische-deutsche Dialoggruppe so oder so bereits jetzt ein großer Erfolg. Denn die Mitglieder haben sich nicht nur deutlich angenähert, Gunzenhausen hat für die jüdischen Teilnehmer auch viel von seinem Schrecken verloren.

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