Zwischen Heimat und Anfeindung: Armenische Familie spricht über ihr Leben in Franken

11.11.2020, 17:32 Uhr
Zwischen Heimat und Anfeindung: Armenische Familie spricht über ihr Leben in Franken

© Foto: Reinhard Krüger

Die Frau zuckt zusammen, ihr Gesicht wird starr, und ihre dunklen Augen füllen sich mit Tränen. Anush Danoyan denkt an ihren Bruder. "Er kämpft an vorderster Front", flüstert sie mehr, als dass sie spricht.

Die Rede ist vom Krieg im fernen Südkaukasus. Dort bekämpfen sich die beiden ungleichen Länder Armenien und Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach mit ihren gerade mal 150.000 Einwohnern. Aserbaidschan (zehn Millionen Einwohner) will die umkämpfte Region wieder komplett mit seinen Truppen kontrollieren, die sich 1991 losgesagt und für unabhängig erklärt hat. Jetzt wird Berg-Karabach von Armenien (drei Millionen Einwohner) unterstützt und mehrheitlich auch von diesen bewohnt.

International jedoch wird sie als Teil des islamisch geprägten Aserbaidschan angesehen, weil kein Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen sie als unabhängig anerkennt. In Armenien ist dagegen der christliche Glaube stark verankert. Weit über 90 Prozent der Bewohner sind Mitglieder der Armenischen Apostolischen Kirche. So wie die Familie Danoyan. 1998 siedelte der damals 15-jährige Levon mit seiner Familie von der Millionenmetropole und Hauptstadt Jerewan nach Deutschland über.


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"Mein Vater hat es beschlossen, und wir mussten gehorchen", sagt der heute 37-Jährige in akzentfreiem Deutsch. Damals mit dabei waren neben den Eltern noch Bruder Armen (heute 35) und Schwester Diana (heute 26). Zunächst lebten sie in Zirndorf im Sammellager, ehe sie in Obererlbach eine erste Bleibe fanden. Seit 2001 sind die Danoyans endgültig in Gunzenhausen ansässig geworden.

2011 lernte Danoyan bei einem Familientreffen in der alten Heimat seine jetzige Frau Anush kennen. Zusammen haben sie mittlerweile drei Kinder: Liana (6), Raffi (4) und Ruben (2,5) besuchen Kindergarten und Kindertagesstätte in der Altmühlstadt. Die Danoyans, so scheint es, sind äußerst zielstrebige und fleißige Menschen. In der Spitalstraße bauten Levon Danoyan und sein Bruder jeweils ein Haus für die beiden Familien. Bruder Armen ist ein gelernter Zimmerer, Levon Danoyan ein handwerklicher Allrounder und gelernter Einzelhandelskaufmann. Also alles gut in Gunzenhausen?

Vorurteile gegen Ausländer

Der Armenier schüttelt leicht den Kopf, seine Stimme senkt sich: "Das Haus, das alles ist wunderbar. Wären da nicht die Menschen, die uns nicht mögen." Auf Nachfrage erzählt Danoyan: "Einer pinkelte völlig ungeniert an unser Haus. Ein anderer wirft voller Absicht seinen Müllsack direkt vor unsere Tür." Für ihn steht fest, dass hinter diesen Aktionen pure Ausländerfeindlichkeit steht: "Die Leute denken immer, wir Ausländer sind faul und tun nichts. Das stimmt einfach nicht."


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Der Familienvater schaut sich um, sieht das modern und zeitgemäß eingerichtete Haus voller Stolz an: "Wir haben sehr viel selbst gemacht, das sparte Kosten." Einmal wollte er einen Rosenstrauch an einem Sonntag stutzen, da kam ein Mann auf ihn zu und monierte diese Handlung. "Ihr lebt in einem christlichen Land", rief der Fremde, "da wird nicht am Sonntag gearbeitet". "Ich war schockiert", sagt Danoyan. Nichts von "leben und leben lassen", nichts von einem freiem und liberalem Land. Auch wenn es nur eine Einzelstimme war, der Armenier ist sich sicher: "Zu einem Deutschen würde er das nie sagen." "Vor allem", fügt er fast schon verzweifelt an, "was habe ich denn schon getan?" Einen Rosenstrauch gepflegt und nicht gehämmert oder gemauert.

Aufruf zum Krieg

Das sei aber noch nicht alles, was ihn und seine Familie umtreibt. "Seit dem Krieg gegen Aserbaidschan werden wir in Deutschland bedroht", behauptet Danoyan. Er zeigt ein Handyvideo, in dem ein Aserbaidschaner aus Nürnberg im Rahmen einer Kundgebung am ehemaligen Reichsparteitagsgelände offen zum Krieg gegen jeden Armenier in Deutschland aufruft. "Stellt euch, kämpft gegen uns. Mann gegen Mann", übersetzt Danoyan die Worte.

Jetzt ist er also da, der Krieg aus dem rund 4000 Kilometer entfernten Armenien ist ins beschauliche mittelfränkische Gunzenhausen gekommen. Rund 30.000 Armenier leben in Deutschland, hat Danoyan ausgerechnet, davon circa 2500 in Nürnberg und Umgebung. Elf armenische Familien seien in Gunzenhausen registriert. Und schräg gegenüber der Danoyans wohne sogar ein Aserbaidschaner. "Aber er ist ein ganz ruhiger Zeitgenosse", betont Danoyan.

Zwischen Heimat und Anfeindung: Armenische Familie spricht über ihr Leben in Franken

© Foto: David Bebber/Times, Guardian

Und da sei noch ein anderer Nachbar, ein Deutscher und ein regelrechter Armenien-Fan, seitdem er einmal im Urlaub dort war. Dieser höre fast nur die Musik dieses Landes, sei von der besonderen Kirchenarchitektur und der atemberaubenden Landschaft begeistert und wolle die Sprache sogar ein wenig lernen. Das freut die Familie, trotzdem sind sie verzweifelt, gehen zunehmend mit einem mulmigen Gefühl aus dem Haus. Dabei möchten sie nur eines: "Wir wollen in Frieden leben und keinen Stellvertreterkrieg hier in unserer Stadt."

Danoyans Schwester Diana war vier, als sie nach Deutschland kam, machte mit einem guten Notendurchschnitt ihr Abitur am Simon-Marius-Gymnasium und studiert derzeit in Ansbach im Masterstudiengang Multimediale Information und Kommunikation. Sie hat bereits vor einigen Jahren ein Buch im Selbstverlag über die armenische Kultur geschrieben und fühlt sich deshalb in beiden Lebensarten zu Hause. "Ich kann sogar a bissala Fränkisch", sagt sie und lacht. Doch ob sie und ihre Angehörigen auf Dauer in Gunzenhausen sesshaft werden, wüssten sie nicht. Die Angst vor irgendeinem Anschlag stecke tief in der Familie drin. Eine Rückkehr in die Heimat schließt Levon Danoyan nicht kategorisch aus.

Die Kinder der Danoyans wachsen jedenfalls zweisprachig auf, die Erwachsenen wechseln zwischen Deutsch und Armenisch. Via Satellit konsumieren sie deutsches Fernsehen, aber natürlich sind auch armenische Kanäle gespeichert. Der Krieg in ihrem Land verschwindet zusehends von den Titelseiten der Zeitungen und Nachrichtensendungen, bedauern sie. "Es interessiert hier keinen mehr", beklagt sich Danoyan.

Über die ungewisse Zukunft kann die Familie aus Gunzenhausen in der Nürnberger Südstadt sprechen. Dort fahren sie regelmäßig hin, um mit ihrer armenische Gemeinde Gottesdienste zu feiern und sich auszutauschen. Anush Danoyan bangt dabei weiter um ihren Bruder, der in der armenischen Armee um die Region Berg-Karabach kämpft. Und die Corona-Pandemie? "Das ist unsere geringste Sorge."

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