Medizinversuche

Medizinversuche an Behinderten: Wie die Rummelsberger mit Gewalt für Ordnung sorgten

20.5.2021, 19:21 Uhr
Medizinversuche an Behinderten: Wie die Rummelsberger mit Gewalt für Ordnung sorgten

© Foto: Rummelsberger Diakonie

Erstmals haben Wissenschaftler den Umgang Rummelsberger Einrichtungen mit Behinderten in den ersten 50 Jahren nach dem Krieg untersucht, vor allem im Auhof in Hilpoltstein (Landkreis Roth) und im Wichernhaus Altdorf (Landkreis Nürnberger Land).

Es habe dabei, so Schübel, verwerfliche Versuche mit Medikamenten gegeben und andere Formen von Gewalt. Er bittet alle, die davon betroffen waren, überzeugend "herzlich um Vergebung". Rummelsberg beklage jede einzelne Form der Verletzung von Menschen.

Den damals teils brutalen Alltag in einer Behinderteneinrichtung zeichnete Hans-Walter Schmuhl nach, einer der Autoren der Untersuchung, die jetzt als Buch vorliegt. Es sei darum gegangen, Verhältnisse aufzuspüren, die die Entstehung einer "Subkultur der Gewalt" ermöglicht und begünstigt hätten.

Erschreckende Befunde

Schmuhl hat dazu 15 ausführliche Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern des Auhofs und zusätzlich des Wurzhofs der Rummelsberger in Postbauer-Heng (Landkreis Neumarkt) geführt. Zum Teil leben die Menschen seit Jahrzehnten in den Einrichtungen. Hinzu sei ein "Glücksfall" gekommen. Es tauchten sogenannte Tag-und-Nacht-Bücher des Auhofes auf, Schreibhefte, in denen Betreuer eingetragen haben, was an besonderen Vorkommnissen geschehen ist.


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Die Befunde Schmuhls sind erschreckend. Auf dem Auhof habe es verschiedene Formen von Gewalt gegeben, angefangen von Ohrfeigen und anderen körperlichen Züchtigungen. "Die waren schon damals sowohl gesetzlich als auch durch die Anstaltsordnung untersagt," betont der freiberufliche Historiker. Er spricht von Fixierungen, Isolierungen, der Verabreichung hoher Dosen sedierender Medikamente zur Ruhigstellung, kalten Duschen, anderen demütigenden Strafen.

"Die dokumentierten Gewaltformen lassen sich nachweisen von den Anfängen der Behindertenhilfe auf dem Auhof 1953 bis in die 1990er Jahre hinein", hat der Experte herausgefunden. Zu einem Wandel dieser Schreckenskultur sei es erst in einem "quälend langsamen Prozess" gekommen.

Gefördert hätten diese Gewaltkultur sehr unzureichende räumliche Voraussetzungen, ein gravierender Personalmangel, eine lange Zeit zu geringe Qualifikation der Mitarbeiter, viel zu große Gruppen und, "charakteristisch für den Auhof", eine Konzentration von schwerer geistig Behinderten und stark verhaltensauffälligen Bewohnern. Mitarbeiter hätten in dieser Situation immer wieder ihr Heil in Bestrafungen ihrer Schützlinge gesucht, um so durch den Berufsalltag zu kommen und die Ordnung auf der Station aufrecht zu erhalten.

Nach wie vor seien die seither erreichten Fortschritte, so Hans-Walter Schmuhl, sehr fragil. Die Arbeitsbedingungen stellten bis in die unmittelbare Gegenwart hinein in der Eingliederungshilfe immer wieder ein Problem dar: "Wir sprechen hier über kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte."

Es gab auch Todesfälle

Medikamentenversuche auf dem Auhof hat in der Studie Sylvia Wagner unter die Lupe genommen, eine Pharmazeutin aus Nordrhein-Westfalen. Anlass war der Hinweis eines ehemaligen Bewohners, der in seiner Akte einen Test gefunden hatte, in den weder er noch seine Eltern eingewilligt haben. Wagner sichtete am Ende fast 500 Akten.

Insgesamt sei im Jahr 1975 an neun Jungen im Alter von neun bis 14 Jahren das Präparat Nomifensin, ein Antidepressivum, ausprobiert worden. Später habe es wegen schwerer Nebenwirkungen vom Markt genommen werden müssen. Es habe offenbar auch Todesfälle gegeben.

Der Auhof-Arzt habe die Folgen seiner Tests peinlich genau festgehalten. Es kam bei den Jungs zu Stimmungsveränderungen, erhöhter Aggressivität oder Apathie, Appetit- und Gewichtsverlust. "Ein Junge kam habe wohl lebensbedrohliche Nebenwirkungen erlitten." Warum an den Jugendlichen ein Antidepressivum getestet wurde, die keineswegs als traurig sondern im Gegenteil als fröhlich beschrieben worden seien, lasse sich, so Wagner, kaum erklären. Sie seien wohl einfach motorisch zu unruhig gewesen. Diese Unruhe sollte offenbar mit Nomifensin gedämpft werden.

"In den Akten habe ich keine Hinweise auf eine Information der Betroffenen oder deren Eltern finden können," sagt Sylvia Wagner, "das wäre aber schon nach damaligen rechtlichen und ethischen Standards geboten gewesen." Zuvor sei das Mittel nur bei Tieren getestet worden.

Recherchen bei der einstigen Herstellerfirma - sie gehört heute zum Pharmakonzern Sanofi - seien ihr verwehrt worden. "Schon in den 1970er 1980er Jahren hat man die Desinformationspolitik der Firma beklagt."

Gefahren gibt es auch heute

Dass Vorfälle wie im Auhof im Altdorfer Wichernhaus nicht in dem Ausmaß entdeckt wurden, sagt nach Auskunft von Karsten Wilke, ebenfalls Historiker und Mitautor der Studie, wenig über die damalige Wirklichkeit aus. "Da gibt es eine Leerstelle", meint er, "es existieren einfach keine Quellen." In den jeweiligen Jahresberichten seien Gewaltereignisse natürlich nicht aufgeführt. "Da kann man lesen, welche Weihnachtsgeschenke verteilt wurden."

Folgenlos sollen die Forschungsergebnisse nicht bleiben. Andreas Ammon, dem heutigen Leiter des Auhofes, geht es nicht allein darum, in der Vergangenheit zu graben oder Schuldzuweisungen zu treffen: "Wir wollen daraus lernen." So habe man 60 bis 70 Menschen identifiziert, die das Unrecht damals erlitten haben. Für die seien bei der "Stiftung Anerkennung und Hilfe" Anträge auf Entschädigung gestellt. Sie unterstützt Menschen, die als Kinder und Jugendliche in Behinderteneinrichtungen oder in der Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben.

Eine "ganz wichtige" Konsequenz aus der Arbeit der Wissenschaftler sei aber zudem die Sensibilisierung der Mitarbeitenden heute. Die Gefahren von damals bestünden durchaus weiter in Einrichtungen mit eingeschränkten Ressourcen und räumlichen Verhältnissen, "die wir zum Teil immer noch haben". Es müsse jedem bewusst sein, dass unter solchen Bedingungen Gewalt passieren könne.

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