Mit Ameisen ganz allein zu Haus

19.8.2020, 18:58 Uhr
Mit Ameisen ganz allein zu Haus

© Foto: colourbox.de/Bearbeitung NN

Ameisen. Nicht nur ein paar, sondern Tausende. Eine breite Straße, die sich quer durch die Küche mit dem sehr vollen Mülleimer unter der Spüle, Ess- und Wohnzimmer bis zur offenen Terrassentür zog. Bis ich die Tierchen überhaupt bemerkte, dauerte es ziemlich lange.

Der Wecker hatte mal wieder viel zu früh geklingelt, und nicht nur vom Schlafmangel betäubt stolperte ich aus dem Bett und bewegte mich durch mein stilles Elternhaus Richtung Herdplatten, um eine große Espresso-Schraubkanne aufzusetzen. Es würde ein schöner, heißer Sommertag werden, so viel war morgens um 7 Uhr schon klar. Und die paar Stunden in der zwölften Klasse am Neumarkter Willibald-Gluck-Gymnasium würden auch vergehen, danach war dann nur mit den Freunden zu klären, ob man sich im Freibad oder am Baggersee trifft.

Erst als ich mit der Tasse in der Hand darüber nachdachte und meinen Blick über den braunen Küchenboden wandern ließ, bemerkte ich das Gewusel. Die Invasion beendete ich schließlich erfolgreich mit dem Staubsauger. Dazu fasste ich den halbwegs festen Vorsatz, künftig den Müll öfter zu leeren, den Boden nicht mehr derart vollzukrümmeln und die Tür zur Terrasse zu schließen, wenn die Feiermeute abgezogen und draußen der Tisch mit den leeren Flaschen abgeräumt war.

Das war 1992. Ich war 19 Jahre alt, das Internet war noch unendlich weit weg, Handys gab es nicht. Stattdessen ein grünes Tastentelefon im Flur mit einem Kabel, das zum Glück bis in mein Zimmer reichte.

Im Briefkasten lagen jeden Morgen eine lokale und eine überregionale Tageszeitung, die damals voll waren mit Geschichten über die Belagerung Sarajevos und den Bosnienkrieg, den Präsidentschaftswahlkampf von Bill Clinton in den USA und den schleppenden Aufbau Ost, von dem ich persönlich aber profitierte. Mein Vater arbeitete seinerzeit für einen Stammbuch- und Behördenbedarfsverlag, und gerade in den Neuen Bundesländern brummte das Geschäft. Weil an eine tägliche Anfahrt von Neumarkt aus nicht zu denken war, blieb er meistens die gesamte Woche über dort, und irgendwann gab es mit meinen Eltern eine Unterredung.


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Genau bekomme ich den Inhalt nicht mehr zusammen, aber es lief auf die Frage hinaus, ob es mir etwas ausmachen würde, wenn ich unter der Woche alleine daheim bliebe, weil meine Mutter gerne meinen Vater auf seinen Touren begleiten würde. Mein sechs Jahre älterer Bruder war zu diesem Zeitpunkt schon längst ausgezogen.

Wahrscheinlich erklärte ich daraufhin mit möglichst ernsthafter Miene, dass das wirklich, aber wirklich kein Problem sei und sie sich auf mich als Hüter eines freistehenden Einfamilienhauses mit großem Grundstück verlassen könnten, aber so was von hundertprozentig!

So kam ich über viele Monate hinweg zu dem, was man damals noch "sturmfreie Bude" nannte. Inklusive des Autos meiner Mutter zur freien Nutzung in der Garage und einer durchaus üppig gefüllten Haushaltskasse. Wobei hier jetzt nicht der Eindruck entstehen soll, dass es deshalb regelmäßig zum totalen Exzess kam.

Natürlich hatte ich von da an regelmäßig sehr viel Besuch, der auch lange blieb. Ich trieb mich in Kneipen herum, fuhr mit Freunden einfach so zum Frühstücken nach Nürnberg oder in die Diskothek nach Regensburg. Oder wir machten einfach ein Lagerfeuer auf der damals noch nicht renovierten Burgruine Wolfstein oder am Baggersee und sprangen im Dunkeln ins Wasser.

So stellte sich sehr schnell ein Gefühl der Freiheit ein, was zum einen mit der bis dahin ungewohnten Lebenssituation und der ohnehin vorhandenen Unbeschwertheit meines jugendlichen Alters zu tun hatte, zum anderen aber mit meiner, nun ja, mitunter beschwerlichen Bildungskarriere.

Es war nicht so, dass ich ein schlechter Schüler war. Aber ich litt viele Jahre lang unter einer großen Prüfungsangst, was vor allem in der Grundschule ein großes Problem war. Zumal ich dort Lehrerinnen hatte, die nicht unbedingt viel Verständnis für diesen relativ schüchternen, zu Tagträumen neigenden Schüler hatten.

Am Ende hatte ich nicht den nötigen Schnitt zum Übertritt auf das Gymnasium, es war eine Drei zu viel beziehungsweise eine Zwei zu wenig, und an den nachfolgenden Aufnahmeprüfungen bin ich kläglich gescheitert. So ging ich auf die Hauptschule, von dort aus nach dem Quali auf die Wirtschaftsschule in Nürnberg und nach der Mittleren Reife in die Übertrittsklasse des Johannes-Scharrer-Gymnasiums.

Im Rückblick neigt man ja gerne zur Übertreibung in jedwede Richtung. Aber es war eine ziemliche Plackerei, die da nach meinem Wechsel an das Neumarkter Gymnasium hinter mir lag. Das machte diesen Sommer 1992 eigentlich so besonders. Es ging auf die Ferien zu, die zwölfte Klasse war trotz einer nicht unerheblichen Anzahl von Fehltagen geschafft – der Vorteil der Volljährigkeit bestand vor allem auch darin, dass man seine Entschuldigungszettel einfach selber unterschreiben konnte –, und ich war mir halbwegs sicher, im Jahr darauf das Abitur zu schaffen.

Meine Eltern hatten selbstverständlich mehr als nur eine leise Ahnung davon, was ich so alles alleine zuhause veranstalte. Aber am Ende wussten sie dann wohl doch auch, dass sie sich darauf verlassen können, dass das Haus noch stehen würde, wenn sie zurückkommen. Trotz der Ameisen, die über Wochen immer wieder im Wohnzimmer auftauchten.

Meine Eltern hatten mehr als nur eine leise Ahnung davon, was ich so alles
alleine zuhause veranstalte.

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