Ende einer Dealer-Karriere: SEK stürmt um 6 Uhr morgens Nürnberger Wohnung

19.11.2020, 05:54 Uhr
Das SEK rückt eigentlich nur an, wenn Gefahr droht. 

© dpa Das SEK rückt eigentlich nur an, wenn Gefahr droht. 

Krachende Donnerschläge reißen die fünfköpfige Familie früh um sechs aus den Betten. Ein schwarz vermummtes Einsatzkommando schlägt die Türe ihrer Mietwohnung mit einer schweren Ramme ein, die Männer brüllen, überwältigen einen der drei fast erwachsenen Söhne. Es ist der falsche. Erst nach einer Schrecksekunde wird schließlich Steven Kerner (alle Namen geändert), 20 Jahre alt, festgenommen und in Handschellen abgeführt.

"Ciao Papa", kann er noch rufen. Drogenfahnder filzen die Fünfzimmerwohnung, finden über 3000 Euro im Stevens Zimmer, dazu Rauschgiftzubehör, Marihuana, drei sündteure Handys. Die Eltern sitzen da immer noch im Schlafanzug am Esstisch, wie versteinert. Sie stehen unter Schock.

Es ist der 12. Mai dieses Jahres. Nach diesem Schreckenstag wird in der Familie nichts mehr so sein, wie es war. Und es war nicht alles rosig vorher. Steven, ein introvertierter, etwas pummeliger Junge, keine Ausbildung und kein Job, hat "hin und wieder" Marihuana geraucht. Davon gingen die Eltern aus. Damit konnten sie irgendwie leben, es würde vorbeigehen.

Ein großer Fisch?

Es ging nicht vorbei. Die Anklage, die einem Nürnberger Schöffengericht ein halbes Jahr später vorliegt, sagt etwas ganz anderes: Steven hat nicht nur seit Jahren Unmengen verschiedener Drogen konsumiert, er war auch ein Dealer. Allein in einem halben Jahr hat er circa elf Kilogramm Marihuana verkauft, um seinen eigenen Konsum zu finanzieren. Jetzt ist er aufgeflogen. Ein größerer Fisch, der ihn mit Ware versorgte, hat ausgepackt. Hat Steven bei der Polizei hingehängt, sagt die Mutter, die sich immer noch schwer damit tut, ihren Sohn kritisch zu sehen.


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Hin und wieder etwas geraucht . . . Vielen Eltern ist trotz solch entlastender Verniedlichungen ziemlich klar, was ihre jugendlichen Kinder treiben. Sie sind dann wie Birgit und Helmut Kerner, Stevens Eltern, voller Hoffnung, dass das nur eine Phase ist, gleichzeitig voller Unsicherheit, wie sie damit umgehen sollen. Drohen? Bitten? Hinnehmen?

Familie Kerner hat sich für Letzteres entschieden. Dafür, dass Haschisch und Marihuana doch eher harmlos sind, verglichen mit dem anderen Gift am Markt. Er nehme "nichts Chemisches, safe", das hat auch Steven seinen Eltern geschworen, als sie mal vorsichtig nachfragten, weil es daheim auffällig nach Haschisch roch. Es war gelogen. Kokain, Amphetamin, LSD, längst hatte der junge Dope-Raucher sein Menü dramatisch erweitert.

Wohnungstüre ist notdürftig zusammengeflickt

Es ist schummrig in dem großen Wohnzimmer mit den Blumenornamenten an den Wänden, in dem Helmut (59) und Birgit Kerner (52) mit dem 19-jährigen Sven und dem 23-jährigen Lukas leben. Stevens Kinderzimmer mit den alten "Drei Fragezeichen"-Büchern, den Stofftieren und der Bettwäsche mit dem großen Tigerkopf darauf steht seit jenem 12. Mai leer.

Die Wohnungstüre ist notdürftig zusammengeflickt, die Spuren der Ramme sind aber noch deutlich zu sehen. Die Polizei geht in solchen Fällen überfallartig vor, weil sie damit rechnen muss, dass es Waffen gibt im Haus. Seit 2016 ein Anhänger der Reichsbürger bei einer Razzia in Georgensgmünd durch die Haustüre auf einen Polizisten geschossen, ihn getötet und drei Beamte verletzt hat, nimmt man das noch ernster.

Dazu kommt: Sind die Fahnder nicht schnell genug, könnten außerdem illegale Drogen schnell im Klo heruntergespült werden. Alles gute Gründe – trotzdem fühlt sich die Familie bis heute überfallen, traumatisiert.

Am runden Tisch, an dem man wegen unterschiedlicher Zeitpläne schon länger nicht mehr gemeinsam isst und an dem die Eltern saßen, als frühmorgens die Welt stehenblieb, spricht vor allem Helmut Kerner sehr offen über den Sohn. Steven ist vor kurzem zu vier Jahren und sechs Monaten Gefängnis, respektive zu zwei Jahren Drogentherapie verurteilt worden ist. Ob er das durchhält? Sie hoffen es. Die Rückfallquote liegt ungefähr bei 60 Prozent.

Der Vater sucht, wie das alle Eltern tun, nach eigenen Fehlern. Sie hätten jahrelang zu viel gearbeitet, zu viel Zeug gekauft ("Hat es diese Playstations wirklich gebraucht?"), statt wirklich miteinander zu sprechen und sich nahe zu sein: "Da sind wir leider sehr spät draufgekommen." Steven, der vor Jahren am Quali-Abschluss gescheitert ist, der ein soziales Jahr mit Müh und Not durchstand, habe gerne den einfacheren Weg genommen.

Seine Mutter, das wird deutlich, hatte er hinter sich. Ihre Erfahrungen in der DDR, wo "der Staat" nach der Wende alles plattgemacht und sie aus Sachsen fortgezwungen habe, überträgt sie auf den Staat, der jetzt ihren Sohn einsperrt. In der Küche nebenan dudelt leise ein Radio, der Jüngste holt sich schnell etwas zu essen und verschwindet wieder vor den PC.

"Mist gebaut, was soll ich sagen"

Für Stevens Mutter sind die Polizisten, die ihre Türe eingeschlagen haben, der 31-jährige Großdealer, der den Sohn verraten hat, die Justiz, die ihn in der U-Haft quälte, mitschuldig an dem Desaster. In den Briefen des 20-Jährigen aus dem Knast hat das seinen Widerhall. Er werde behandelt wie ein Schwerverbrecher, dürfe nicht joggen, klagt er in eng gedrängter Schrift. Dabei habe er doch "nur Heilpflanzen" geraucht und solle nun dafür "kaputtgemacht werden".

Es ist ein weinerlicher Ton, der aus den Seiten mit den vielen hingekritzelten Herzen darauf spricht. Der inzwischen 21-Jährige sei äußerst "haftempfindlich", hatte es im Nürnberger Jugendgericht geheißen. Das sei etwas, aus dem Besserung wachsen könne. Ganz selten liest man in einem von Stevens zahllosen Briefen, er habe "Mist gebaut, was soll ich sagen".

Anwalt Peter Steiner, laut ironischer Selbstbeschreibung "ein alter Giftverteidiger", spricht nur dann Tacheles, wenn man seine Identität nicht offenbart. Schon seit 30 Jahren hat er mit straffälligen Drogenabhängigen zu tun. Er hat erlebt, wie lethargisch sie oft sind, wie sehr sie abschlaffen durch ihre Joints. Schon eine Weile beobachte er, wie Mütter ihre Kinder trotz allem heiligsprechen, wie Väter sich lieber nicht einmischen und kaum Grenzen setzen. "Das war früher nicht so", sagt Steiner. Er nennt es Hilflosigkeit.

Irgendwann werde er den Sohn mit seinen Lügen konfrontieren, sagt Helmut Kerner zum Schluss am Esstisch. Ob er selbst daran glaubt? Warum es überhaupt so weit kam, diese Frage wird dem 21-jährigen Angeklagten im Gerichtssaal gestellt. Die falschen Freunde, sagt er unter Tränen, die waren schuld.

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