Gewalttätige Kinder und Jugendliche: Völlig aus der Spur

6.8.2020, 15:40 Uhr

Rückblick: Am Montag vergangener Woche (27. Juli) ist der Elfjährige wieder einmal aus seiner Betreuungseinrichtung weggelaufen. Streifenpolizisten finden ihn betrunken in einem Park. Die Beamten wollen ihn zum Streifenwagen bringen, der Junge wehrt sich heftig. Schließlich tritt er einem Polizisten ins Gesicht, so dass dessen Nase blutet.

Der Bub ist seit rund eineinhalb Jahren bei der Polizei aktenkundig. Mal ist er betrunken in seiner Jugendeinrichtung aufgetaucht, dann wieder mitten in der Nacht aus der offenen Einrichtung fortgelaufen. Seit dem Jahreswechsel häufen sich die Vorfälle, es kommen strafrechtlich relevante Delikte hinzu, für die der strafunmündige Junge aber noch nicht sanktioniert werden kann. In Medienveröffentlichungen wird der Elfjährige inzwischen als "Systemsprenger" bezeichnet.

Komplett überfordert

Spätestens seit dem gleichnamigen Film, der Anfang dieses Jahres in die Kinos kam, steht "Systemsprenger" für Kinder, die immer wieder massiv ausrasten und mit der Zeit alle Jugendhilfesysteme komplett überfordern. Nach und nach fliegen sie aus jeder Wohngruppe, jedem Heim, jeder Pflegefamilie. Und mit jedem "Rauswurf" wird es schwieriger, noch eine Einrichtung für sie zu finden, sagt Frank Schmidt.

Wobei der stellvertretende Leiter des städtischen Jugendamtes die Bezeichnung "Systemsprenger" als ausgesprochen unglücklich empfindet. Denn der Begriff suggeriert, das Kind selbst trage die Schuld an seinem Verhalten. Tatsächlich aber sind Kinder, die immer wieder auffällig werden, wie jüngst der Elfjährige, in aller Regel Opfer eines Familiensystems, das nicht funktioniert hat, berichtet Schmidt.

Sie kommen aus den unterschiedlichsten Milieus, ja selbst aus gut situierten Familien. Die Persönlichkeitsentwicklung und die kognitive Entwicklung sind sehr unterschiedlich. Sehr intelligente Kinder finden sich hier ebenso wie Kinder, die am Rande der Lernbehinderung stehen.


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Zum Beispiel jener Zwölfjährige, dessen Vater psychisch erkrankt war und Messie-Symptome zeigte. Der Junge lebte bei seiner Mutter, die sich aber nicht dazu imstande sah, ihn zu erziehen. Er entglitt ihr, wurde immer verhaltensauffälliger. Andere Kinder erleiden schon in sehr frühen Jahren schwere Traumatisierungen, weil sie misshandelt oder sexuell missbraucht werden. Selbst aus Akademikerfamilien kommen Kinder, die schon früh unter Störungen leiden, die in den Bereich jugendpsychiatrischer Diagnosen fallen.

In manchen Fällen mündet dies in eine regelrechte Karriere in der Jugendhilfe. Schon in der zweiten oder dritten Grundschulklasse kommt es zu Auffälligkeiten, zu aggressivem Verhalten. Irgendwann muss die Schule ein solches Kind ausschließen. Es folgt der Marsch durch Pflegefamilien und Einrichtungen, teils gepaart mit wiederholten Aufenthalten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wegen Selbst- oder Fremdgefährdung. Zumindest gefühlt, sagt Frank Schmidt, wird die Zahl solcher Kinder allmählich größer – und die Betroffenen sind immer jünger.

Kann er Erfolge tanken?

Was tun? Es gilt für die Fachleute, den Kreislauf von Ladendiebstählen, Alkoholproblemen und unter Umständen Drogenkonsum eines Kindes oder Jugendlichen zu durchbrechen. Das kann Wochen dauern, und die Erfolgschancen hängen sehr stark vom einzelnen Kind ab, berichtet der stellvertretende Jugendamtschef.

Ist es dazu in der Lage, sich selbst zu hinterfragen? Kann der junge Mensch beispielsweise in einer Berufsausbildung durch Erfolge Selbstbewusstsein tanken oder fehlt ihm die Stabilität hierfür? Und nicht zuletzt: Können die Betreuer einen emotionalen Zugang zu ihm finden?

Wichtige Voraussetzungen hierfür lassen sich schaffen, indem ein Betroffener vorübergehend in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht wird, was einen entsprechenden Beschluss des Familiengerichts voraussetzt. Für den Elfjährigen "suchen wir gerade händeringend nach einer solchen Einrichtung", sagt Frank Schmidt. Kein leichtes Unterfangen, denn die Zahl der Plätze ist, gemessen am Bedarf, nicht allzu groß.


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Die Rummelsberger Diakonie beispielsweise betreibt zwei geschlossene Intensivgruppen für Jungs mit zusammen zwölf Plätzen; im oberbayerischen Gauting, südwestlich von München, gibt es ein korrespondierendes Angebot für Mädchen mit 42 Plätzen in sechs intensiv-therapeutischen Gruppen. Weitere Adressen liegen unter anderem in München selbst, in Würzburg oder in Oberfranken. Das bayerische Landesjugendamt listet im Internet insgesamt acht Einrichtungen mit 95 geschlossenen Plätzen auf.

Nur zu gerne würde das Nürnberger Jugendamt eine eigene Clearingstelle eröffnen. Die Planungen sind weit gediehen, Rummelsberg würde als Kooperationspartner einsteigen, sagt Schmidt. Bislang aber scheitere dieses wichtige Projekt daran, dass sich kein geeignetes Gebäude finde.

Insgesamt funktioniere das Präventionssystem in Nürnberg aber relativ gut. Das schlägt sich auch in den Zahlen nieder. Geschätzt ein bis drei Kinder pro Jahr werden so verhaltensauffällig wie der Elfjährige, in Nürnberg sind sie also fast noch so etwas wie eine Ausnahme.

122 Intensivtäter

Diese Einschätzung stützt auch die Polizeistatistik. Aktuell zählt sie in Mittelfranken 122 jugendliche Intensivtäter, also junge Menschen ab 14 Jahren, die innerhalb von sechs Monaten mindestens fünf Straftaten sowie eine Gewalttat begangen haben. Immerhin verüben zehn Prozent der jugendlichen Straftäter in Bayern etwa 50 Prozent aller Straftaten dieser Altersgruppe, besagt eine Studie des bayerischen Landeskriminalamtes.


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Unter diesen 122 jugendlichen Intensivtätern befinden sich aktuell gerade einmal zwei Kinder, berichtet Polizeisprecher Stefan Bauer. Möglicherweise kommt der Elfjährige jetzt noch hinzu.

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