"Schmerzensschreie": Entsetzen nach Polizeieinsatz am Wöhrder See

8.8.2020, 05:54 Uhr
Nach den nächtlichen Vorfällen am Wöhrder See erheben Zeugen schwere Vorwürfe gegen USK-Beamte. Die Polizei dagegen spricht von Deeskalation und Kommunikation, auf die ihr Konzept ausgerichtet sei. Das Foto zeigt eine USK-Übung.

© Foto: Hubert Bösl Nach den nächtlichen Vorfällen am Wöhrder See erheben Zeugen schwere Vorwürfe gegen USK-Beamte. Die Polizei dagegen spricht von Deeskalation und Kommunikation, auf die ihr Konzept ausgerichtet sei. Das Foto zeigt eine USK-Übung.

Clubs und Discos sind zu, Bars dürfen erst seit Kurzem wieder Cocktails und andere Getränke servieren. Corona schränkt das Nachtleben ein. Deshalb halten sich in lauen Sommernächten in Parks ungewöhnlich viele Menschen auf, vor allem junge Leute. Der Abend des 3. Juli, ein Freitag, war sommerlich warm. Am Wöhrder See waren viele Menschen unterwegs. Bis ein Polizeieinsatz dort für Aufsehen sorgte.


USK löst Pulk in Nürnbergs Zentrum auf: So sorgen andere Städte vor


Kurzer Ortswechsel: Auch der Obere Schlossgarten in Stuttgart ist im Sommer ein beliebter Platz für junge Menschen. Hier kam es zwei Wochen zuvor, in der Nacht zum 21. Juni, zu hässlichen Szenen: Marodierende Gruppen zogen durch die Stuttgarter Innenstadt, zertrümmerten Schaufenster und plünderten. Auslöser der Krawalle, an denen bis zu 500 Personen beteiligt gewesen sein sollen, war die Polizeikontrolle bei einem 17-Jährigen im Schlossgarten.

Ein jähes Ende

Zog die bayerische Polizei aus dem Einsatz im benachbarten Bundesland ihre eigenen Schlüsse? Am Abend des 3. Juli jedenfalls flanierte Josefine M. mit Freunden am Nordufer des Wöhrder Sees entlang. Der friedliche Spaziergang findet jedoch kurz nach 23 Uhr ein jähes Ende. Ein Ende, das sie heute noch aufwühlt. Sie und ihre Freundinnen fanden, dass an diesem Abend "die einzige Gewalt mit Eskalationspotential von der Polizei selbst ausging".

Sie beschreibt die Szenen, die sich in der Nähe des Café Strandgut am Johann-Soergel-Weg ereigneten, so: "Wir waren zu viert auf dem Heimweg, als wir durch eine größere Gruppe (etwa 15 junge Leute) hindurchgemusst hätten. In der Gruppe hatten drei junge Männer augenscheinlich gerade eine verbale Meinungsverschiedenheit. Wir konnten keine Handgreiflichkeiten wahrnehmen und haben uns nicht bedroht gefühlt", schildert die 26-Jährige.

Plötzlich seien fünf Polizisten herangesprintet. "Sie gingen ohne Fragen zu stellen, ohne den Versuch, die Situation zu überblicken oder zu deeskalieren, auf einen der jungen Männer mit Schlagstöcken los." Sie habe gesehen, wie das Opfer Prügel auf den Rücken bekam, von Beamten gegen einen Bauzaun gedrückt wurden und mit diesem umgefallen sei.

Entsetzen und Empörung

Ein Foto zeigt auf dem Rücken eines Beamten in schwarzem Overall die Bezeichnung "B Y 43 12". Recherchen ergeben, dass eine geschlossene Einheit des Unterstützungskommandos (USK), das bei der Bereitschaftspolizei an der Kornburger Straße in Nürnberg angesiedelt ist, den Einsatz ausführte.

Der "unverhältnismäßige Gewaltauftritt der Beamten" habe unter den Menschen für Entsetzen und Empörung gesorgt. "Wir hätten gerne nach Dienstnummern gefragt oder uns als Zeugen aufführen lassen, aber die nun anstürmende Verstärkung in Form von weiteren Polizeibussen mit mindestens zehn weiteren Polizisten machte uns dies unmöglich", erzählt die Zeugin.


George Floyd sagte vor Tod mehr als 20 Mal "Ich kann nicht atmen"


Auf einem Video einer anderen Zeugin, das der Redaktion vorliegt, ist zu sehen, wie die nachgerückten USK-Männer eine Kette bilden, hinter der ihre Kollegen den 19-Jährigen "behandeln". Viele der Umstehenden in der aufgebrachten Menge versuchten die Situation mit ihren Handys zu filmen. Die Beamten blendeten sie mit Taschenlampen, offensichtlich um die Aufnahmen zu stören.

"Man hörte laute Schmerzensschreie"

Dann aber passiert etwas, das den unbeteiligten Zeugen den Atem stocken ließ: "Ein Mädchen aus der Gruppe nähert sich der Polizisten-Reihe indem sie laut nach ihrem Bruder fragt. Offensichtlich ist er die Person, die geschlagen wurde und am Boden lag. Sie hielt einen Arm nach vorne in Richtung der Kette, worauf sie von zwei Beamten grob gepackt und durch die Kette gezerrt wurde. Sie wurde zu Boden gerissen und als sie bereits lag, konnten wir sehen, wie die Beamten auf sie einschlugen.

"Man hörte laute Schmerzensschreie", berichtet Josefine M. Im Polizeibericht, den das Präsidium einen Tag später veröffentlichte, heißt es dazu: "Eine 17-Jährige beleidigte die Polizisten wüst und eine 15-Jährige versuchte den Festgenommenen zu befreien. Die Einsatzkräfte nahmen die jungen Frauen fest."


Polizeigewalt: Linke fordert Stopp von Waffenexporten in die USA


Die Polizisten in der Reihe seien dann nach vorne gerückt und hätten mit Worten wie "verpisst euch" versucht, die Passanten abzudrängen. Eine Strategie, durch die offenbar eine Solidarisierung mit den Festgenommenen, wie es sie in Stuttgart gab, verhindert werden sollte. Dabei warfen sie M.‘s Freundin um, die sich durch den Sturz verletzte. "Wir entfernten uns danach vom Tatort."

Ein Einsatzschwerpunkt

Diesen Vorfall wollte sie aber so nicht stehen lassen. M. versuchte auf zwei Dienststellen, sich über den Einsatz zu beschweren und sich als Zeugin anzubieten. Eine Gelegenheit habe man ihr dazu nicht gegeben. Zusammen mit ihren Freunden, die den Einsatz miterlebten, setzte sie eine Dienstaufsichtsbeschwerde auf und schickte sie ans Präsidium. Mittlerweile wurden die Zeugen des umstrittenen Einsatzes von der Kripo auch vernommen.

Auf Anfrage der Lokalredaktion heißt es in der Polizeipressestelle, dass es sich bei dem Bereich am Wöhrder See, "um einen polizeilichen Einsatzschwerpunkt" handle. "Dabei ist unser polizeiliches Einschreiten zuvorderst ein auf Kommunikation und Deeskalation ausgerichtetes Stufenkonzept abgestellt", erklärt Elke Schönwald, Leiterin der Pressestelle.

Die Beschwerde von Josefine M. sei zur Aufklärung an das Landeskriminalamt (Interne Ermittlungen) weitergeleitet worden, da aufgrund der Schilderung eine strafrechtliche Relevanz im Raum stehe. M. ist gespannt, was da herauskommt. "Bei solchen Einsätzen müssen auch völlig Unbeteiligte fürchten, dass sie ins Visier der Polizei geraten, wenn sie helfen wollen. Das macht mir Angst."