Seit Corona: Wenn das Feierabendbier zum Problem wird

27.4.2021, 20:01 Uhr
Keine Kritik: "Der Computer meckert nicht, wenn ich nach Bier rieche."

© imago images/bogdanbrasoveanu Keine Kritik: "Der Computer meckert nicht, wenn ich nach Bier rieche."

Eine repräsentative Studie des Universitätsklinikums Nürnberg und des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim hat ergeben, dass 37 Prozent der Teilnehmenden während des ersten Lockdowns im April 2020 mehr getrunken haben als vorher. Dass dies bei vielen problematische Ausmaße angenommen hat, sehen inzwischen auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Suchtberatungsstellen.

Oft sind es Männer in den Vierzigern, verheiratet, mit einer verantwortungsvollen beruflichen Position und Kindern im Kita- oder Schulalter, die zu Norbert Eigner kommen. "Die Leute gehören zur gehobenen Mittelschicht. Ohne Corona hätten die meisten gar kein Problem bekommen. Inzwischen bemerken wir, dass hier deutlich mehr Menschen Rat bei uns suchen", sagt der Sozialpädagoge, der im Suchthilfezentrum (SHZ) der Nürnberger Stadtmission tätig ist.

Fehlende Kontrolle: Im Homeoffice ist das Weinglas schnell zur Hand.

Fehlende Kontrolle: Im Homeoffice ist das Weinglas schnell zur Hand. © imago images/Addictive Stock/David Prado

Obwohl bei diesen Klienten vordergründig vieles "stimmt", sind auch sie zunehmend überfordert. "Einige sind schon seit einem Jahr im Homeoffice, die Frau genauso, und die Kinder können nicht in der Schule. Man sitzt eng aufeinander, muss zusätzliche Familienaufgaben übernehmen", beschreibt Eigner eine typische Konstellation. "Nicht selten ist der Job in Gefahr, man steht unter Druck, aber zugleich fehlt die Ruhe zum Arbeiten und der persönliche Freiraum."
In dieser Situation ist der Griff zur Flasche, der am Arbeitsplatz im Betrieb undenkbar wäre, verführerisch. "Der Computer meckert nicht, wenn ich nach Bier rieche", erklärt Eigner. Der Alkohol aber biete zunächst genau die gewünschte Wirkung: Er vertreibe Sorgen und Ängste und sorge für mehr Lockerheit.

Nun wird der Feierabend immer ein Stückchen weiter nach vorn verlagert, um sich ein paar Schlückchen zur Entspannung zu gönnen. "Männer machen auf diese Weise viel mit sich selbst aus", sagt Eigner. Bis die Partnerin schließlich einschreitet – nicht selten mit einem Ultimatum.

Partnerin droht mit Trennung

"Eine Beziehungskrise ist das erste deutliche Folgeproblem des erhöhten Alkoholkonsums", sagt Eigner. "Viele kommen zu uns, weil es richtig gescheppert hat. Oft steht bereits eine Trennung im Raum." Auch manche Frauen entwickeln unter hoher Belastung in der Pandemie ein riskantes Trinkverhalten. "Vielfach tragen Frauen immer noch die Hauptlast, müssen sich um die Kinder im Homeschooling, um ihren Beruf und um den Haushalt kümmern. Das ist besonders eklatant, wenn sie alleinerziehend sind", stellt Sozialpädagogin und Psychotherapeutin Erica Metzner fest. Die Leiterin des Suchthilfezentrums der Stadtmission weiß, dass Alkohol für manche ein "Selbstlösungsversuch" ist, "um in Balance zu bleiben".

Gerade für Mütter sei es besonders schwierig, "überhaupt mal Zeit für sich zu finden, geschweige denn, mit uns ungestört zu telefonieren". Doch Metzner macht Mut: "Wir finden auf jeden Fall einen passenden Termin, das geht auch nach 18 Uhr."

Die Hauptsache sei, dass Betroffene den Schritt wagen, sich zu melden. Innerhalb von 14 Tagen gibt es einen verbindlichen Rückruf mit einer Erstberatung, verspricht Metzner. "Wir checken dann gemeinsam: Wie kritisch ist es? Wie sind die Lebensumstände? Wie lautet das Ziel? Das ist ganz individuell."

Viele wünschen sich laut Eigner, wieder zu einem moderaten Umgang mit Alkohol zurückzukehren. "Ob das noch möglich ist, muss man ein Stück weit austesten. Ich kann Wege aufzeigen", sagt der Therapeut, der beim Laufen und Radfahren selbst am besten abschalten kann. Alternativen zum Stressabbau könnten neben Sport auch eine TV-Serie oder ein fesselndes Buch sein.

Wichtig sei, "sich frühzeitig Hilfe zu suchen, nicht erst dann, wenn es schon zu spät ist", betont Metzner. "Niemand muss sich schämen oder Schuldgefühle haben. Besser nach dem Motto handeln: ,Ich bin’s mir wert, ich hole mir Rat.‘ Wir beim SHZ sind völlig neutral und helfen zu reflektieren."

Während bei dem einen ein Videotelefonat schon viel bewirkt, braucht ein anderer zwei bis drei persönliche Gespräche oder eine längere kontinuierliche Beratung, auf Wunsch mit Partner. "Auch wenn bei uns Abstands- und Hygieneregeln gelten, versuchen wir immer eine passgenaue Lösung zu finden", sagt Metzner.

"Ehrlich zu sich selbst sein"

Kollege Norbert Eigner rät, "ehrlich zu sich selbst zu sein und sich zu hinterfragen, wie man Stress bewältigt – das ist das A & O, denn jeder kann in eine Sucht hineinrutschen". Die aktuelle Zunahme des Beratungsbedarfs ist wohl erst die Spitze des Eisbergs, befürchtet Metzner: "Diese und andere Auswirkungen der Pandemie werden uns noch länger begleiten." Alkoholprobleme seien aber sehr gut zu erkennen und gut zu therapieren: "Darin liegt sehr viel Hoffnung."

Suchthilfezentrum der Stadtmission, Krellerstraße 3, Telefon 37654–200, E-Mail: shz@stadtmission-nuernberg.de

Suchtberatung der Caritas, Obstmarkt 28, Telefon 54-181, E-Mail: suchtberatung@caritas-nuernberg.de

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