Wegen Corona: Digital-Schub für Nürnbergs Gerichte

4.8.2020, 05:16 Uhr
Wegen Corona: Digital-Schub für Nürnbergs Gerichte

© Foto: Boris Roessler/dpa

"Wir hören Sie gut", sagt Richter Rainer Beisenwenger, und seine beiden Richterkollegen rechts und links von ihm nicken. Gemeint ist ein Rechtsanwalt, doch die Richter und die Anwälte treffen sich nicht im Gerichtssaal. Im Saal 141 des Landgerichts Nürnberg-Fürth findet die erste Video-Verhandlung der hiesigen Justiz über ein Web-portal statt, verhandelt wird online.

Die Pandemie samt der Abstandsregeln krempelt auch die Justiz um: "Die Corona-Krise beschert den Gerichten einen Digitalisierungsschub", sagt Thomas Dickert, Präsident des Oberlandesgerichts (OLG) Nürnberg.

Wegen Corona: Digital-Schub für Nürnbergs Gerichte

© Foto: Harald Sippel

Der Video-Prozess wird bald zum Alltag bei Gericht gehören: 50 Videokonferenzanlagen sind in den Gerichten des Freistaats bereits in Betrieb, in Nürnberg ist eine Anlage fest verbaut, zwei Anlagen sind mobil nutzbar, eine weitere mobile Anlage ist bestellt. Justizminister Georg Eisenreich (CSU) erklärte die "flächendeckende Ausstattung" zum Ziel.

Höchst sensible Daten

Zwar sind Vernehmungen per Video schon lange möglich – die Strafprozessordnung lässt zu, dass Geschädigte von Gewalt- und Sexualstraftaten hinter einer Kamera sitzen und aussagen können. So müssen sie als Opferzeugen den Gerichtssaal nicht betreten, den Angeklagten nicht treffen. Auch ist es im Weg der Rechtshilfe möglich, Zeugen aus weit entfernten Ländern per Video zu hören und ihnen die weite Anreise zu ersparen. Doch all dies war bisher eher die Ausnahme.


Bayern: Gerichte setzen auf Video-Verhandlungen


Nun bringt Corona neue Technik in die Gerichtssäle: Zivilprozesse finden online als Videokonferenz statt, und auch innerhalb der Justizverwaltung wird online kommuniziert. Der Fahrplan für den elektronischen Rechtsverkehr steht ohnehin seit Jahren im Gesetz, außerdem wird die elektronische Gerichtsakte zum 1. Januar 2026 bundesweit in allen Gerichtszweigen Pflicht.

Schutz der elektronischen Akten

Der papierlose Rechtsverkehr verspricht bessere Kommunikation mit den Bürgern, doch der elektronische Weg muss vor Angriffen von außen geschützt werden, geht es doch um höchst sensible Daten. "Der Schutz der in elektronischen Akten gespeicherten Daten ist eines der zentralen Anliegen des IT-Servicezentrums", sagt Wolfgang Gründler, Chef des IT-Servicezentrums der bayerischen Justiz. Seine Behörde sitzt in Amberg, und ist für fast 16 000 IT-Arbeitsplätze zuständig, und auch für den operativen Schutz des Justiznetzes verantwortlich.


Wegen Corona-Krise: Nürnberger Justiz auf Sparflamme


"Mit der E-Akte könnten 70 Prozent der Arbeit zu Hause erledigt werden", kommentiert Dickert – und er sieht dies auch vor dem Hintergrund der Epidemie. Als OLG-Präsident ist er als Richter tätig, doch vor allem ist er Chef der Verwaltung und verantwortlich für 3400 Mitarbeiter. Um diesen Betrieb am Laufen zu halten, sind ständig Konferenzen nötig.

Drei Millionen Menschen leben im Bezirk des OLG Nürnberg, er erstreckt sich von Tirschenreuth im Norden bis Mainburg im Süden und von Rothenburg im Westen bis Furth im Wald im Osten.

In der Justizverwaltung, so sagt Dickert, seien die Anlagen für Videokonferenzen "im Dauereinsatz", er selbst traf während der Hochzeit der Pandemie virtuell jede Woche mindestens einmal die Präsidenten der Oberlandesgerichte in Bamberg und München, die Generalstaatsanwälte und Vertreter des Justizministeriums.

Anwälte sparen sich Reisen

Zurück in den Saal 141: Die erste Video-Verhandlung läuft routiniert, es dauert nur wenige Minuten, bis alle in die neue Technik eingewiesen sind. Der Fall selbst im Saal 141 ist nicht aufregend, der Streitwert liegt bei einigen Hundert Euro, es geht um eine Tanzschule, die auf ihrer Website ein Foto einer Tanzschülerin ohne deren Erlaubnis gezeigt hat. Verhandelt wird mittels Teams, einem handelsüblichen Microsoft-Produkt, erklärt Wolfgang Gründler.


So wirkt sich die Corona-Krise auf Gerichtsprozesse aus


Eine bestimmte Technik schreibt die Zivilprozessordnung nicht vor. "Das Gericht kann den Parteien, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen", heißt es in Paragraf 128 a.

Der Vorsitzende Richter führt in den Sach- und Streitstand ein, Kläger und Beklagte nehmen Stellung, die Richter versuchen, eine gütliche Einigung herbeizuführen. Die Beteiligten begegnen einander nur virtuell, doch der Ablauf im Saal 141 unterscheidet sich kaum von einer gewöhnlichen Gerichtsverhandlung.

Umgang mit Epidemie beschäftigt Justizminister

Ist dies nur der Anfang dessen, was die Digitalisierung zugunsten einer leistungsfähigen Justiz bewegen könnte? Das Beispiel zeigt: Die Rechtsanwälte sparen sich einen Großteil ihrer Reisen zu anderen Gerichtsstandorten. Die Streitparteien, hier die Leiterin der Tanzschule, muss sich nur für die Dauer der Verhandlung Zeit nehmen und kann sich in ihrem Wohnzimmer an den Computer setzen, statt, um für den Prozesstag frei zu haben, ihren Laden einen ganzen Tag zuzusperren.

Wie sich der Zivilprozess einschließlich der mündlichen Verhandlung komplett in die digitale Sphäre verlagern lässt, beschäftigte den OLG-Präsidenten schon, bevor der Corona-Virus zu Hygiene- und Abstandsregeln zwang. Er leitet eine deutschlandweite Projektgruppe – und sieht, dass die Digitalisierung der Gerichte deren Handlungsfähigkeit erhält und die Justiz für die Zukunft aufstellt.

Haben Menschen mehr Zeit?

Der Umgang mit der Epidemie beschäftigt die Justizminister aller Bundesländer und dominiert auch deren Konferenzen: In den ersten Wochen legte der Virus überall den Betrieb beinahe lahm, die Straf- und Zivilgerichte, die Arbeits-, Sozial- und Verwaltungsgerichte – überall wurden nur dringend notwendige Verfahren verhandelt. Doch die Zahl der Verfahren wird nicht weniger, nicht alles kann schriftlich erledigt werden und das Recht der Bürger auf effektiven Rechtsschutz ist durch die Grundrechte geschützt und muss auch in Krisenzeiten gewährleistet sein.

Dass die Digitalisierung des Rechts in manchen Bereichen längst zum Alltag gehört, zeigt der noch neue Markt für automatisierte Rechtsdienstleistungen.

Legal-Tech-Portale, die für Verbraucher Forderungen eintreiben, boomen. Im Netz können Verbraucher ihr Recht per Knopfdruck durchsetzen: "Abfindungsheld.de" etwa wendet sich an Gekündigte. Die Nutzer beschreiben Betriebszugehörigkeit, Bruttoverdienst und Betriebsgröße und erfahren, ob Aussicht auf Abfindung besteht. Und gleich mehrere Portale erstreiten die Forderungen von Fluggästen, wenn Flüge verspätet kamen, verschoben oder abgesagt wurden.

Doch letztlich ersetzen die Algorithmen, also mathematischen Formeln, Anwälte und Gerichte nicht. Es geht nicht um komplexe Rechtsfragen, sondern um einfache Rechenaufgaben – und bis vor einigen Jahren hätte sich kaum einer die Scherereien zugemutet, wegen eines verspäteten Abflugs um Entschädigung zu streiten. Dies lässt sich statistisch belegen: Bis zum Jahr 2010 wurde am Amtsgericht Nürnberg praktisch nie Klage wegen eines verspäteten Fluges erhoben – wohl auch, weil Kläger das erstrittene Geld gleich als Honorar an den Anwalt hätten weitergeben können. Doch zuletzt verhandeln einige Nürnberger Amtsrichter im Viertelstundentakt gegen Airlines: 2018 registrierte das Gericht 1400 Klagen.

Leitungen schnell überlastet

Die digitalisierte Rechtsdienstleitung wird die Arbeit der staatlichen Behörden immer stärker verändern – wenn die Rahmenbedingen stimmen, wie das Beispiel der Bußgeldverfahren zeigt.

Vor allem im Straßenverkehr kommt es massenhaft zu geringwertigen Verstößen. Nur wenn der Betroffene das Bußgeld nicht akzeptiert, kommt es zu einem gerichtlichen Hauptverfahren, und fast immer geht es nur um die Rechtsfolge, meist um die Höhe des Bußgelds, und nicht um eine aufwendig geführte, strittige Beweisaufnahme. "Ressourcenschonend" könnten diese Verfahren als Videokonferenz geführt werden.

Doch derzeit leidet die Justiz noch unter einem Kapazitätsproblem, sagt Thomas Dickert. Vier bis fünf Verhandlungen per Video könnten derzeit wohl gleichzeitig via Teams stattfinden, dann seien die Leitungen des Justiznetzes überlastet.

Die Hauptverhandlung in einem Strafverfahren als Videokonferenz zu führen, ist rechtlich dagegen nicht möglich. Die Strafprozessordnung schreibt den Unmittelbarkeitsgrundsatz vor – demnach muss sich das Gericht tatsächlich selbst ein Bild vom Angeklagten, den Zeugen und anderen Beweismitteln machen. Der Grundsatz besagt, dass das Gericht alle Beweise selbst erheben muss. So sind etwa Zeugen persönlich zu vernehmen und es dürfen nicht schlichtweg die Protokolle über frühere Vernehmungen verlesen werden. Eine Videovernehmung wie im Saal 141 im Zivilprozess wäre in einem Strafverfahren nicht möglich.

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