Krankheit

Wenn Familienangehörige vergessen: So erklärt man Kindern Demenz

4.3.2022, 05:53 Uhr
Viele Heranwachsende wachsen mit Eltern oder Großeltern auf, die an Demenz erkrankt sind. Gerade Kindern muss die Krankheit umfassend erklärt werden, sagt Martina Plieth, Theologin und Professorin an der Evangelischen Hochschule Nürnberg. 

© Tom Weller/picture alliance/dpa, NN Viele Heranwachsende wachsen mit Eltern oder Großeltern auf, die an Demenz erkrankt sind. Gerade Kindern muss die Krankheit umfassend erklärt werden, sagt Martina Plieth, Theologin und Professorin an der Evangelischen Hochschule Nürnberg. 

In Deutschland leben mehr als 1,5 Millionen Menschen mit Alzheimer, weltweit sind mehr als 44 Millionen Menschen von Demenz betroffen. Die Diagnose ist für Betroffene wie Angehörige ein Schock und gerade für Heranwachsende ist es anfangs oft schwer zu verstehen, was mit den Angehörigen, meist sind es die Groß- oder Urgroßeltern, passiert. Martina Plieth, Theologin und Professorin an der Evangelischen Hochschule in Nürnberg erklärt, wie Familien den Kindern die Krankheit näherbringen können.

Martina Plieth ist Professorin an der Evangelischen Hochschule in Nürnberg (EVHN) und lehrt im Bereich Gemeinde, Pädagogik und kirchliche Bildungsarbeit. Zuvor arbeitete sie mehrere Jahre als Pfarrerin in einem Altenheim. 

Martina Plieth ist Professorin an der Evangelischen Hochschule in Nürnberg (EVHN) und lehrt im Bereich Gemeinde, Pädagogik und kirchliche Bildungsarbeit. Zuvor arbeitete sie mehrere Jahre als Pfarrerin in einem Altenheim.  © Christian Horn

Frau Plieth, Sie haben als Pfarrerin in einem Altenheim viel mit Demenzkranken gearbeitet und deren Angehörige kennengelernt. Waren auch Kinder dabei?

Martina Plieth: Ja – und mir wurde in vielen Gesprächen klar, dass Heranwachsende teilweise in die Begleitung und Versorgung von Menschen mit Demenz einbezogen werden, ohne umfassend über deren Ausgangslage aufgeklärt worden zu sein. Sie müssen sich oft vieles selbst erschließen, schaffen das aber längst nicht immer hinreichend. Und dann kriegen sie nur mit, dass die Groß- oder Urgroßeltern komisch werden, seltsam grantig oder vielleicht sogar aggressiv, wissen aber nicht warum. Wenn man Kindern die Krankheit des Vergessens nicht angemessen erklärt, entwickeln sie Angst oder andere belastende Gefühle. Sie glauben womöglich, dementiell Erkrankte seien grundsätzlich böse oder gefährlich, und gehen dementsprechend auf Abstand, was nicht gerade gemeinschaftsfördernd wirkt.

Wie kann man Kindern erklären, was mit ihren dementiell erkrankten Familienangehörigen passiert?

Plieth: Man muss versuchen, ihnen auf verständliche Weise nahezubringen, warum und wie Menschen mit Demenz sich verändern, wie sie reagieren und worauf man im Kontakt mit ihnen achten muss. Beispielsweise nicht von hinten an die Person heranspringen oder sich anschleichen, sondern sich von vorne behutsam annähern, damit sie sieht, wer auf sie zukommt. Nicht zu leise oder zu laut und schnell sprechen, sondern mit einer angenehmen mittleren Lautstärke und langsam. Grundsätzlich gilt: Es ist auf jeden Fall besser, mit Kindern über die Krankheit zu reden als ihnen Informationen vorzuenthalten. Sonst denken sie, dass ihre erkrankten Verwandten verrückt geworden sind oder den Verstand verloren haben. Aber das ist falsch. Menschen mit Demenz sind weder verrückt noch ohne Verstand.

Demenz in der Familie ist ein emotionales Thema. Welche Gefühle können bei Erwachsenen wie Kindern auftreten?

Plieth: Es gibt vielfältige emotionale Reaktionen bei Angehörigen: Fremdschämen, Angst, Aggressivität und Wut, aber auch Sorge oder Trauer. Das Gefühl, sich für das Auftreten von dementiell Erkrankten schämen zu müssen, haben nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder. Im Restaurant das Messer im Essen suchen oder mit den Fingern direkt in die Nudeln greifen und sie sich in den Mund stopfen – das ist oft unangenehm. Wenn so etwas passiert, kommt es darauf an, sich selbst und anderen deutlich zu machen: Ein Mensch mit Demenz verhält sich nicht absichtlich auffällig. Er kann nicht mehr anders. Er hat bestimmte Fähigkeiten, die Erwachsene üblicherweise besitzen, verloren, weiß unter Umständen nicht mehr, wozu und wie Messer und Gabel zu verwenden sind. Darüber müssen Kinder informiert werden, um sich in die Ausgangslage demenziell Erkrankter hineinversetzen und Verständnis für diese entwickeln zu können. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang, dass Kinder aus eigener Erfahrung wissen, wie es sich anfühlt, etwas (noch) nicht zu verstehen oder einschätzen zu können. Dadurch entsteht Nähe zu den Menschen mit Demenz, die nicht mehr dazu in der Lage sind, bestimmte Sachverhalte zu durchschauen.

Die Verhaltensweisen von dementiell Erkrankten erscheinen uns manchmal unfreiwillig komisch und manchmal unangenehm. Wie sollten wir auf sie reagieren?

Plieth: Wichtig ist, diese Menschen nicht auszulachen oder zu beschimpfen. Ideal wäre es, ihnen verständnisvoll und humorig zu begegnen. Humor kann sehr befreiend sein. Wer lachen muss, ist nicht in der Lage, zeitgleich grimmig zu gucken. Lachen löst Spannungen. Aber natürlich kann im Beisammensein mit dementiell Erkrankten manchmal gar kein Humor mehr entstehen oder der vorhandene Humor geht verloren, weil einfach alles zu viel ist. Das sollte auch gesehen und berücksichtigt werden. Angehörige, die sich nur noch genervt, ausgepowert und überfordert fühlen, müssen auch mal auf Abstand zu denen, um die sie sich kümmern, gehen können und dürfen. Auch darüber sollte mit Kindern offen gesprochen werden.

Es gibt doch bestimmt auch Eltern, die ihre Kinder vor dem Thema Demenz schützen wollen?

Plieth: Ja. Wir haben das bei unserer kürzlich in bayerischen Horten durchgeführten Demenz-Fragebogenaktion gesehen. Neben den Eltern, die begeistert waren, weil wir ihre Kinder zum Thema interviewt haben, gab es auch solche, die überhaupt nicht wollten, dass sich ihre Kinder mit der Krankheit beschäftigen. Letztere hatten viele Vorbehalte und befürchteten, dass Informationen und Gespräche über Demenz Heranwachsende prinzipiell zu sehr belasten und deprimieren. Kinder selbst sehen das in aller Regel ganz anders. Sie wollen informiert und mit ihren Fragen ernst genommen werden. Manchmal haben sie sogar richtig gute und praktikable Ideen, wie dementiell Erkrankte zu unterstützen und zu begleiten sind. Wenn sie diese einbringen dürfen, macht sie das stolz und stärkt ihr Selbstbewusstsein. Manchen Erwachsenen täte es sicher gut, das bewusst wahrzunehmen.

Braucht es eine breitere Aufklärung von Kindern zum Thema Demenz?

Plieth: Kinder werden heute schon intensiver über Demenz aufgeklärt als früher. Aber es wäre gut, wenn es zukünftig noch mehr kindgemäße Informationen und Gespräche über die Krankheit gäbe als gegenwärtig – und das nicht nur im familiären, sondern ebenfalls im schulischen Bereich. Bedauerlicherweise ist das Thema ‚Demenz‘ im bayerischen Lehrplan nicht regulär vorgesehen, obwohl es ein Zukunftsthema für alle Generationen darstellt. Ich plädiere dafür, das Thema auch im schulischen Kontext zu behandeln, zum Beispiel im evangelischen oder katholischen Religionsunterricht.


Info: Im Rahmen des Online-Festivals "G'scheid schlau!" gibt es am 23. Oktober um 19 Uhr eine Veranstaltung mit Prof. Martina Plieth und Jonny Schmidt zum Thema "Erklär‘ mir Demenz! - Mit Kindern über die ‚Krankheit des Vergessens‘ sprechen - aber wie?". Tickets und weitere Informationen unter www.gscheid-schlau.de

Verwandte Themen


Keine Kommentare