Schröder drängt auf Ende der Nato und Reformen der EU

24.1.2021, 13:30 Uhr
Legen eine Analyse der Weltpolitik vor: Gerhard Schröder und Gregor Schöllgen (rechts).

© Gudrun Senger Legen eine Analyse der Weltpolitik vor: Gerhard Schröder und Gregor Schöllgen (rechts).

Sie lernten sich kennen und offenbar auch schätzen, als der eine die Biografie des anderen schrieb - der Historiker Gregor Schöllgen (69) und Ex-Kanzler Gerhard Schröder (76). 2015 erschien Schöllgens Buch über den Werdegang des Niedersachsen, seitdem stehen beide im Austausch. Und als "Ergebnis eines Gesprächs, das wir seit vielen Jahren führen", präsentieren die beiden nun 248 Seiten Zeitgeschichte und Politik - ihr Gemeinschaftswerk "Letzte Chance" (DVA, 22 Euro), das an diesem Montag erscheint.

Los geht's mit einer pointierten Analyse des Ist-Zustands der Welt. Und dem Arbeitsauftrag der beiden: „Die Welt liegt im Koma. Paralysiert und apathisch verfolgen wir die epidemische Zunahme von Krisen, Kriegen und Konflikten alle Art. Und der Westen, den es so gar nicht mehr gibt, sitzt in seinen überlebten Strukturen fest. Wir fragen, wie es dahin kommen konnte. Und wir sagen, wie es weitergehen muss."

Schöllgens Handschrift ist erkennbar

In zehn Kapitel haben sie ihr Buch gegliedert. In weiten Teilen ist Schöllgens Handschrift zu erkennen. Geschichtliche Prozesse verständlich und packend zu schildern - das kann der lange in Erlangen lehrende Historiker. Dass Schröder sein Co-Autor ist, steigert die Aufmerksamkeit für das Werk gewaltig. Vor einer Woche legte der Spiegel vor mit einem Doppel-Interview, auch wir werden den Ex-Kanzler und seinen Mitverfasser demnächst befragen.


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Zur Moskau-Nähe zum Beispiel, die nicht nur im entsprechenden Kapitel "Der wankende Riese: Russland am Scheideweg" herauszulesen ist. Mit teils merkwürdigen Rollen-Aufteilungen - wenn der Altkanzler Schröder über sich selbst schreibt, wie 2005 „im Beisein des Bundeskanzlers und des russischen Präsidenten“ der umstrittene Vertrag über die Nord-Stream-Pipeline unterzeichnet wurde.

Ex-Kanzler verteidigt Russland

Klar, dass Schröder - der Aufsichtsratsvorsitzende des staatlich gelenkten russischen Konzerns Rosneft - dieses Geschäft verteidigt. Ein Boykott, wie er zuletzt angesichts des harten Vorgehens des Kreml gegen Regimekritiker Alexej Nawalny gefordert wurde, schade nicht zuletzt deutschen Firmen - und nütze den USA, die auch deswegen die Ostsee-Pipeline verhindern wollten, weil sie bevorzugt ihr eigenes Gas exportieren wollten.

Wie man mit Russland umgehen soll, ist ein Kernthema des Buchs. Respektvoller, mit mehr Verständnis für das, was offenbar auch Putin umtreibt: die (angebliche oder tatsächliche) Schwäche des Riesenreichs - und zwar schon vor, während und auch nach der Ära der Sowjetunion. Die beiden schreiben: "Putin weiß: Wer Schwäche zeigt, ist angreifbar…Und Russland ist ziemlich schwach.“

Auf Distanz zu Moskaus Grenzüberschreitungen

Der Kremlchef sei „kein Hasardeur. Er demonstriert, provoziert, überschreitet auch Grenzen, die nicht überschritten werden sollten, aber den Verstand verloren hat er nicht.“ Deutlich auf Distanz zu Moskau gehen Schröder und Schöllgen allerdings mit Blick auf eben doch erfolgte Grenzüberschreitungen wie die Annexion der Krim, den Cyberkrieg während des US-Wahlkampfs 2016, Hackerangriffe auf den Bundestag und auch „Mordanschläge auf Regimegegner“ wie Nawalny.


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Dennoch: Es sei der Westen gewesen, der Russland ab 1991, nach dem Zerfall des Sowjet-Imperiums, mit der Ausdehnung der Nato unter Druck gesetzt habe, betonen die beiden immer wieder. Sie zitieren mehrfach George F. Kennan, den Doyen der US-Nachkriegsdiplomatie, der vergeblich vor der Osterweiterung der Nato als größtem Fehler Amerikas gewarnt hatte.

Verpasste Chance zur Selbstauflösung der Nato?

Schröder und Schöllgen schreiben mit Blick auf 1991 und das Ende der Sowjetunion: „Was hätte näher gelegen, als die Gunst der Stunde zu nutzen, diesem Abgang die eigene Auflösung folgen zu lassen, die freigesetzten Ressourcen in die Bewältigung der sich bald abzeichnenden neuen Herausforderungen zu investieren und eine Sicherheitsarchitektur zu schaffen, die Russland einschließt? Das tat die Nato nicht, im Gegenteil."

Ihre Hauptforderung zielt denn auch auf die Abschaffung der Nato in ihrer heutigen Struktur. Da sind sie ganz bei Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron, der das westliche Bündnis 2019 als "hirntot" bezeichnete. Das Bündnis in dieser Form habe sich mit Erledigung seiner Aufgaben - also dem Ende des Gegners, des Warschauer Pakts - überflüssig gemacht.

Nötig sei eine Reform der ebenfalls zu starren, zu wenig flexiblen Europäischen Union. Es brauche die Abkehr vom Prinzip der einstimmigen Entscheidungen in der EU. Deutschland und Frankreich müssten zudem die alte, immer wieder gescheiterte Idee einer europäischen Armee wiederbeleben, um sich so zum einen von der Abhängigkeit von den USA zu befreien und zum anderen einsatzfähig zu werden bei Konflikten vor der Haustür.

"Der Westen hatte seine Zeit"

Das Fazit von Altkanzler und Historiker: „Der Westen hatte seine Zeit. Sie war gut. Sie war politisch erfolgreich. Aber sie ist vorbei. Wie sonst ließe sich die rasante Autodemontage der westlichen Gemeinschaften erklären…“

Außer Macron sind allerdings keine aktiven Politiker in Sicht, die ähnliches auf den Weg bringen wollen wie es die Autoren fordern. Sie liefern eine beklemmende Analyse der komplexen Weltlage samt offensichtlicher Probleme wie wachsender Ressourcenknappheit, Klimawandel und - auch als Folge dieser Krisen - Flüchtlingsströmen. All dies verstärke die Notwendigkeit, Europa handlungsfähiger zu machen. Ein Alarmruf, der in Schröders Partei wegen der Konsequenzen - einer europäischen Verteidigungspolitik mit all ihren Folgen - eher auf Skepsis bis Ablehnung stoßen dürfte.

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