Inklusion in Schwabach: Was ist schon normal?

13.6.2019, 05:58 Uhr
Inklusion in Schwabach: Was ist schon normal?

© Foto: Thomas Correll

Ziemlich genau zwei Jahre ist es her, da waren wir zu Besuch in der Kita St. Martin in der Bahnhofstraße. Der Grund: Für die vorbildliche Inklusionsarbeit hatte die Kita eine Auszeichnung vom deutschen Down-Syndrom Info-Center bekommen. Im Zentrum des damaligen Artikels stand der zweieinhalbjährige Erik Kolesinski – ein Junge mit Down-Syndrom (zur Info siehe auch den Text weiter unten), Diabetes und jeder Menge Lebensfreude. Erik ist jetzt viereinhalb und hat kein bisschen seiner Lebensfreude verloren.

Er greift nach der Kamera

Die Kamera interessiert ihn sofort. Er will sie gar nicht mehr loslassen. Aber er nimmt auch ganz selbstverständlich die Hand des Journalisten, um ihn zum Aufzug zu führen. Er weiß, dass man den nur benutzen kann, wenn die Erwachsenen die richtigen Knöpfe drücken. Andere Vierjährige sind vielleicht schüchtern, wenn ein fremder Mann mit einer Kamera und einem Notizblock sich plötzlich für sie interessiert. Erik lacht und greift wieder nach der Kamera.

Dann dauert es aber doch ein bisschen, bis das Bild mit den anderen Kindern der Gruppe entstehen kann, weil zuerst Eriks Handy piepst – die Zuckerwerte. So ganz "normal" ist er eben nicht, wobei die Begriffe Schwierigkeiten machen: Was ist schon normal? Wie benennt man den Unterschied? Gitti Fürbeth, die Kita-Leiterin, sagt: "Er ist ein Integrativ-Kind. Aber in Anführungszeichen. Am liebsten wäre es uns, wenn wir gar keinen eigenen Begriff verwenden müssten."

Kurse in Gebärdensprache

Innerhalb der Kita habe man durchaus diskutiert, ob Erik erneut im Zentrum eines Zeitungsartikels stehen soll – er sei in der Gruppe eben ein Kind wie jedes andere Kind. Ein Kind allerdings, das etwas aufwendiger zu betreuen ist: Er spricht noch nicht, kann sich nicht alleine anziehen oder essen.

Der gute Personalschlüssel ihrer Einrichtung, sagt Fürbeth, sei eine Voraussetzung dafür, dass es so gut funktioniert. Die andere sei der Wille der Erzieherinnen, die etwa Kurse in Gebärdensprache belegen, um mit Erik besser kommunizieren zu können.

Vor zwei Jahren war Erik ein Krippenkind, jetzt gehört er zu den "Großen". Die Eingewöhnung in die Kindergarten-Gruppe hat weniger Probleme gemacht als erwartet: "Die Gruppe besteht ja aus 21 Kindern. Da ist jede Menge Trubel", sagt Christine Kolesinski, "es ist erstaunlich, wie gut er sich eingefügt hat". Das liege auch an den anderen Kindern: "Die Großen achten sehr auf ihn und kümmern sich." Und geben gleich Bescheid, wenn zum Beispiel mal wieder sein Handy piepst, wegen der Zuckerwerte.

Der Austausch hilft

Christine Kolesinski ist nach wie vor glücklich über ihre Kita-Entscheidung. Sie weiß aber auch, dass es nicht überall so gut läuft. Das ist unter anderem der Grund dafür, dass sie eine Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen hat. Familien mit Kindern, die das Down-Syndrom haben, treffen sich etwa alle zwei Monate, tauschen sich aus und helfen sich gegenseitig. Immer wieder zeige sich, so Kolesinski, dass die zentralen Themen und Bedürfnisse allen gemeinsam sind und allein der Austausch den Familien das Leben erleichtert. Ziel ist es auch, in Zukunft Experten zu bestimmten Themen einzuladen.

Als Räumlichkeit hat die Kita St. Martin ihre Turnhalle bereitgestellt, wofür Kolesinski sehr dankbar ist. Man habe hier einen abgeschlossenen Raum, in dem die Kinder auch mal toben können. Insgesamt rund 30 Familien kommen zu den Treffen, das Einzugsgebiet geht weit über Schwabach hinaus – es gibt nicht viele solcher Gruppen in der Region.

Wie es mit Erik weitergeht? Irgendwann steht der Übertritt in die Schule an – "sicher noch nicht mit sechs", sagt Christine Kolesinski. Erik soll sich in seinem Tempo entwickeln können. In der Kita ist er jedenfalls fürs Erste gut aufgehoben: "Er ist total glücklich und freut sich jeden morgen darauf."

Ansprechpartner der Selbsthilfegruppe für Kinder mit Trisomie 21 und deren Angehörige sind Christine Kolesinski, Tel. (0176) 39 74 86 65, und Sabine Merten, Tel. (0160) 2 80 09 27.

Informationen zum Down-Syndrom

Die Trisomie 21 ist das häufigste mit Behinderung einhergehende Syndrom, welches auf einer "falschen" Chromosomenzahl im Zellkern beruht: das Chromosom 21 ist dreifach anstatt doppelt vorhanden. In Deutschland leben 30 000 bis 50 000 Menschen mit Down-Syndrom. Auf 650 Geburten fällt schätzungsweise eine mit Trisomie 21.

Mit einem höheren Gebäralter (etwa ab 35 Jahre) scheint das Risiko zu steigen, ein Kind mit dieser Krankheit zu bekommen. Bei 35- bis 40-jährigen Müttern wird eines von 260 Kindern mit Down-Syndrom geboren, bei 40- bis 45-jährigen Müttern bereits eines von 50.

Die Krankheit äußert sich im Erscheinungsbild in einer verzögerten motorischen Entwicklung und einer individuell sehr unterschiedlich ausgeprägten Intelligenzminderung. Die Intelligenz von Kindern mit Down-Syndrom ist meist leicht bis mittelschwer vermindert. Nur wenige Betroffene sind hochgradig geistig behindert (acht Prozent). Der britische Arzt John L. H. Langdon-Down berichtete 1866 als Erster von dem Krankheitsbild.

Er nannte es "Mongolismus", weil seine Patienten für ihn Ähnlichkeiten mit Menschen aus der Mongolei hatten. Diese Betrachtung ist jedoch objektiv falsch und hat einen negativen Beigeschmack. Deshalb sind die Bezeichnungen "Down-Syndrom" (nach ihrem Entdecker) oder "Trisomie 21" (nach dem Defekt auf Chromosom 21) gebräuchlich.

Derzeit wird kontrovers diskutiert, ob ein vorgeburtlicher Test auf Trisomien von den Krankenkassen bezahlt werden soll. Der Deutsche Ärztetag hat sich dafür ausgesprochen. Die Entscheidung zum Test dürfe nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängig sein. Kritiker, darunter Behindertenverbände und Kirchenvertreter, sehen den Test als ein Instrument der Selektion, befürchten steigende Abtreibungszahlen und betonen die Würde des ungeborenen Menschen.

 

 

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