"Wo es einen Mindestlohn gibt, gibt es mehr Arbeitslosigkeit"

19.7.2013, 09:14 Uhr

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Herr Brossardt, hat sich die Unternehmenskultur in Deutschland verändert, seit der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder 2003 eine stärkere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ankündigte?

Bertram Brossardt: Es hat sich zu allererst der Arbeitsmarkt als solcher verändert. Die Unternehmen haben sich insoweit verändert, als sie mehr Arbeitsplätze geschaffen haben. Sie haben seit dem Jahr 2003 über zwei Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen zusätzlich geschaffen. Das funktioniert nur, wenn innerhalb der Unternehmerschaft eine größere Bereitschaft zu Einstellungen vorhanden ist, die Beschäftigungsschwelle also nicht mehr im bisherigen Ausmaß am Wachstum hängt.

Die Gewerkschaften beklagen, dass sich etwa durch die Erleichterung von Zeitarbeit in vielen Unternehmen eine Zwei-Klassen-, durch Werkverträge mancherorts sogar eine Drei-Klassen-Gesellschaft gebildet habe.

Brossardt: Es bleibt festzuhalten, dass mit der Agenda 2010 in hohem Maße die Tendenz zu Verlagerungen ins Ausland gebremst werden konnte. Unsere Exportzahlen haben sich enorm erhöht, deshalb ist die Beschäftigung gestiegen. Entsprechend der konjunkturellen Lage ist etwa in der bayerischen Metall- und Elektroindustrie die Zeitarbeit gesunken, aber die Stammbelegschaft gestiegen. Über 60 Prozent der Zeitarbeiter kommen aus der Arbeitslosigkeit, das System ist in sich also stimmig. Und nach der Statistik der Bundesagentur wird ein Viertel der Zeitarbeiter nach und nach übernommen. Bei den Werkverträgen ist ein grundsätzliches Missverständnis vorhanden.

Was meinen Sie mit Missverständnis?

Brossardt: Was ein Werkvertrag ist, ist im BGB klar definiert. Man schuldet etwas anderes, als in einem Arbeitsvertrag. Der Werkvertrag ist Ausdruck einer Spezialisierung. Unsere Wertschöpfungsketten sind so aufgebaut, dass sich unsere Unternehmen auf ihr Kerngeschäft fokussieren können. Die Entscheidung darüber, etwas herauszugeben, wird gefällt, weil andere es besser können und weil auch Haftung, Entwicklung und Finanzaufwand auf mehreren Schultern ruhen. Das ist das Grundprinzip. Mit der Bezahlung hat das nichts zu tun.

Das Problem, das viele Kritiker in Werkverträgen sehen, ist doch nicht die Vertragsform an sich, sondern ihr Missbrauch, etwa um Tarife zu unterlaufen.

Brossardt: Entschuldigung, wir haben bei den Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie steigende Entgelte, da wird nichts unterlaufen. Wenn heute ein Automobilhersteller in Bayern einen Werkvertrag an einen ihm nachgelagerten Zulieferer vergibt, ist dieser entweder auch tarifgebunden oder er zahlt an den Tarifvertrag angelehnt. Eins ist allerdings richtig: Wenn Sie sich zuhause die Wand streichen lassen, dann zahlen Sie nicht nach Metall- und Elektrotarif, sondern nach dem Handwerkstarif. Selbstverständlich treten wir gegen jede Form des Missbrauches ein. Wenn es einen gibt, muss man ihn unterbinden.

Lässt sich das in der Praxis tatsächlich effektiv kontrollieren?

Brossardt: Das lässt sich mehr als gut kontrollieren. Die Kontrollen sind beim Zoll zentralisiert und werden gemacht. Die Abgrenzung zwischen Arbeitsvertrag und Werkvertrag ist für jemanden, der damit täglich zu tun hat, gut machbar. Auch Organisationen wie die meinige bieten in unseren Betrieben entsprechende Schulungen an.

Die Gewerkschaften gehen auch davon aus, dass zunehmend vormals betriebsinterne Aufgaben über Werkverträge an Externe ausgelagert werden.

Brossardt: Erstens ist „Make or buy“ die Grundentscheidung des Unternehmers, zweitens ist es so – und das mögen die Gewerkschaften zur Kenntnis nehmen – dass sie außer Behauptungen nichts vorzulegen haben. Wir haben gerade eine entsprechende Untersuchung vorgelegt, aus der klar wird, dass bei über 80 Prozent der Unternehmen mehr als 60 Prozent der Wertschöpfung durch das Unternehmen selbst erbracht wird. Und 90 Prozent der Unternehmen wollen daran nichts ändern. In der Industrie ist die Abgrenzung zwischen Werkverträgen und Erbringung von Eigenleistung klar, sie hat sich in den letzten zwei, drei Jahren sogar noch verschärft. Die Arbeitsteiligkeit in unserer Industrie ist Teil unseres Erfolgsgeheimnisses. Wenn wir beginnen die zu zerstören, stellen wir unsere Wettbewerbsfähigkeit in Frage.

Bleibt die Diskussion nicht auch deshalb so abstrakt, weil es keine amtliche Statistik darüber gibt, wie viele Menschen über Werkverträge beschäftigt sind?

Brossardt: Entschuldigung, das könnten Sie doch gar nicht! Es werden Tag für Tag hunderttausende Werkverträge geschlossen. Wenn Sie ihr Auto reparieren lassen, wenn Sie ihr Haus streichen lassen, was meinen Sie wie viele tausend Werkverträge ein Unternehmen täglich schließt? Das wäre ein Angriff auf unsere gesamte Vertragsfreiheit, dieser Vorschlag ist fern der Realität.

Es gibt Vorschläge, dass ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn Abhilfe schaffen könnte, weil er verbindliche Rahmenbedingungen für alle schaffen würde. Warum sind Sie dagegen?

Brossardt: Gegen einen gesetzlichen Mindestlohn treten wir ein, weil wir ihn für einen Verstoß gegen die Tarifautonomie in der Verfassung halten. Wir sehen nicht, dass dort, wo es einen Mindestlohn gibt, die Situation besser wäre. Wo es einen Mindestlohn gibt, gibt es im Regelfall mehr Arbeitslosigkeit. Und wenn Sie einen Blick auf ein klassisches Mindestlohnland wie Frankreich werfen, dann gibt es da eine Jugendarbeitslosenquote von 25 Prozent. Wir haben ohne Mindestlohn höhere Beschäftigung und höhere Einkommen. Er ist rechtlich fragwürdig und inhaltlich nicht notwendig.

Die vbw rechnet mit Vollbeschäftigung in Bayern, aber nur wenn Zeitarbeit oder Werkverträge nicht stärker reguliert und keine gesetzlichen Mindestlöhne eingeführt werden. Welchen Nutzen hat eine Gesellschaft von Vollbeschäftigung, wenn ein Teil der Arbeitnehmer unter unsicheren Bedingungen und niedrigem Einkommen beschäftigt ist?

Brossardt: Vollbeschäftigung heißt, dass man eine Arbeitslosenquote von unter drei Prozent hat. Das ist in mehr als der Hälfte der bayerischen Landkreise bereits heute der Fall. Wir gehen mittelfristig davon aus, dass – wenn die Grundprämisse funktioniert – das überall der Fall sein wird. In der Zeitarbeit sind wir zu 100 Prozent tarifgebunden.

Mittlerweile.

Brossardt: Nein, schon seit Jahren haben wir eine Regelung innerhalb des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes. Darin steht, es gibt equal pay, es sei denn jemand wird nach Tarif anders bezahlt. Wir haben eine hundertprozentige Tarifbindung, aber wir haben eine Gewerkschaft, die einen Vertrag unterschreibt und sich dann hinterher beklagt, das wären schlechte Arbeitsbedingungen. Das ist nicht korrekt. Und wenn Sie dazu betrachten, dass dort etwa 60 Prozent der Beschäftigten aus der Arbeitslosigkeit kommen, dann kann ich daran nichts Schlechtes finden. Wir haben dort Löhne, die sich in Bereichen bewegen, die nicht hoch sind. Aber es sind Tariflöhne, es sind ganz normal sozialversicherungspflichtige Beschäftigte und es ist eine feste Arbeit. Da möge man in Europa schauen, wo es das noch gibt. Übrigens steigt die Anzahl von Zeitarbeitern nicht, sondern sie bleibt etwa stabil.

Trübt nicht auch die hohe Zahl befristeter Verträge die Aussicht auf Vollbeschäftigung?

Brossardt: Die höchste Quote an befristeten Beschäftigungen gibt es im Öffentlichen Dienst. In der Metallindustrie arbeiten dagegen 96 Prozent unbefristet. Aber wir haben strenge Kündigungsvorschriften. Deshalb ist die Frage des Einstieges, des Zutrauens eine Beschäftigungsschwelle. Ein Unternehmen in einer unsicheren Lage sagt sich, ich brauche jemanden, aber ich bin nicht sicher ob ich denjenigen halten kann. Wenn der Arbeitgeber im Fall der Fälle nicht an den Arbeitnehmer gebunden ist, fällt die Entscheidung einzustellen leichter. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich weiß, was mit einer Kündigung verbunden ist. Aber ein Arbeitgeber sagt eben, dann befriste ich lieber erst. Und die Entwicklung zeigt, dass die meisten von einer befristeten in eine feste Beschäftigung hineinwachsen. Daran sieht man, dass das Prinzip richtig ist.

Wenn man immer nur von der konjunkturellen Entwicklung abhängig ist – ist das nicht Ausdruck eines grundlegenderen Strukturproblems?

Brossardt: Diejenigen Gesellschaften, die glauben, von der Konjunktur unabhängig dauerhaft Beschäftigung organisieren zu können, stecken derzeit in Europa in großen Problemen. Was wir brauchen, ist im Kern etwas ganz anders: die flexicurity, die die EU für den Arbeitsmarkt gefordert hat, geht davon aus, dass nicht der einzelne Arbeitsplatz, sondern der Arbeitsmarkt sicher ist. Also dass man von einem Job sehr schnell in den nächsten findet. Und wenn wir in unserer Gesellschaft das Grundvertrauen herstellen könnten, dass man Menschen sehr schnell wieder in die Beschäftigung bringen kann, so dass die Erwerbsbiographien ungebrochen bleiben, wären wir auf dem richtigen Weg. Zu glauben, dass man es mit einer starken Regulierung hinbekäme, die man gegen jede Konjunktur durchhalten könnte, halte ich für eine Illusion.

Es gibt Studien von Krankenkassen, die von großen psychischen und physischen Belastungen von Menschen in Zeitarbeit oder mit befristeten Verträgen sprechen.

Brossardt: Dazu kann ich Ihnen eines sagen: Unter der größten psychischen Belastung leiden nach den Statistiken der Krankenkassen die Arbeitslosen. Das Beste, was man für den Menschen tun kann, ist es daher, möglichst wenige Arbeitslose zu haben. Wenn man Menschen in Arbeit bringt, gibt man ihnen die Möglichkeit sich zu entwickeln. Arbeit ist für Arbeitslose der Einstieg in den Aufstieg, die Selbstgestaltung des Lebens ist durch Arbeit einfacher und deshalb müssen wir den Arbeitsmarkt weiter so flexibel halten, wie er derzeit ist.

Bertram Brossardt, geboren 1960 in Neustadt/Weinstraße, ist seit 2005 Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw), sowie des Bayerischen Unternehmerverbandes Metall und Elektro (bayme) und des Verbandes der bayerischen Metall- und Elektroindustrie.

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