Club-Chef Grethlein: Philosoph mit Nahtod-Erfahrung

11.2.2021, 09:35 Uhr
Vom Fan des 1. FC Nürnberg zum Chef: Seit 2014 ist Thomas Grethlein Vorsitzender des Aufsichtsrates.

© Sportfoto Zink / Daniel Marr, NN Vom Fan des 1. FC Nürnberg zum Chef: Seit 2014 ist Thomas Grethlein Vorsitzender des Aufsichtsrates.

Immanuel Kant, der geistige Kopf der Aufklärung, oder Martin Heidegger, Sein und Zeit? Dass man darüber beim Fußball ankommt, ist noch nicht einmal besonders erstaunlich, in diesem Spiel ist ja ständig von Philosophie die Rede. Aber für Thomas Grethlein, den Aufsichtsratsvorsitzenden des 1. FC Nürnberg, war es in jungen Jahren eine existenzielle Frage, so etwas wie ein persönliches Relegationsspiel. Grethlein gehörte als Assistent zum Lehrstuhl für Philosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, zu seinen beliebten Kant-Seminaren kamen über 50 junge Menschen, der freundliche Doktor Grethlein war ein populärer, geschätzter Dozent.

"Ich habe die Universität über alle Maßen geliebt", sagt er, "sie war mein Zuhause." Er stand vor der Erfüllung eines Lebenstraums, als sein Chef "konvertierte", wie Grethlein sagt, "er hat sich um 180 Grad gedreht", von Kant zu Heidegger. Der Assistent Grethlein wollte nicht folgen; als seinen Chef ein Ruf nach Halle ereilte, blieb er zurück – allein mit Kant, der Traum von einer Habilitation in Erlangen, der Traum vom Universitäts-Professor, war zu Ende. "Für mich ist damals eine Welt zusammengebrochen", sagt Grethlein, "eine sehr tiefe Krise" sei es gewesen, eine dunkle Zeit.

"Ich war sehr durchgeistigt"

Er lächelt. "Ich war sehr durchgeistigt", sagt er. Gut drei Jahrzehnte später sitzt Thomas Grethlein in seinem Büro in der Äußeren Sulzbacher Straße in Nürnberg, Mediendesign heißt die Firma, die er mitbegründete und ab 1991 als Geschäftsführer leitete, heute gehört er zum Aufsichtsrat. Es ist eine kleine Aktiengesellschaft, erfolgreich mit Online-Strategien und Software-Entwicklung. Kant würde man hier eher nicht vermuten, aber Grethlein liest und liebt den Denker aus Königsberg noch immer.

Ob ihm das hilft in Krisen, wenn er sie jetzt beim Fußball erlebt? "Das Studium hat mir viel fürs Leben mitgegeben", sagt er, "ich glaube, in Diskussionen ganz gut zu sehen, was der Punkt ist", das sei "nicht inhaltlich Philosophie, aber in den Soft Skills" – beide Welten in einem Nebensatz, das muss man auch erst einmal schaffen.


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Kant, die Firma, der Fußball: "Aus einem Unglück ist ein Glück geworden", sagt der 62 Jahre alte Thomas Grethlein, er wisse das zu schätzen – aber, ja, "es war ein sehr verrücktes Berufsleben", vielleicht fände man auch darüber eine Nähe zum Fußball, der ohne Verrücktheiten kaum vorstellbar wäre.

Training mit Horst Weyerich

Fußball hat der gebürtige Nürnberger Thomas Grethlein gerne gespielt, erst beim SV Flügelrad, im Alter von 15 Jahren wechselte er zum 1. FC Nürnberg, aber nicht, wie er gleich dazusagt, weil er so gut gewesen wäre. Damals durfte noch jeder Bub zum Club kommen, Grethlein hat nie in den ersten Jugendmannschaften gespielt, aber mit dem später berühmt gewordenen Bundesliga-Libero Horst Weyerich trainiert.


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"Welten zu solchen Fußballern" hätten sich da aufgetan, sagt der ehemalige Mittelfeldspieler Grethlein, "ich habe ein gutes Auge gehabt, war aber zu langsam." Die Frage, ob es zum Profi reichen würde, musste er sich nie stellen, eine andere stellte ihm sein Vater, Bäckermeister mit einem Betrieb erst am Plärrer, später in der Gartenstadt: die Frage, ob er das elterliche Geschäft übernehmen wolle.

Aber der Sohn, der mithalf, in aller Frühe die Semmeln auszufahren, hatte längst die Bücher für sich entdeckt und die Liebe zu einer im doppelten Wortsinn brotlosen Kunst, wie Bäckermeister Robert Grethlein fand. Philosophie, "damit konnte mein Vater nichts anfangen, er hat sehr gelitten", erzählt Thomas Grethlein, der, nach dem Abitur am Dürer-Gymnasium, das Studium in Erlangen begann – und bald ein Stipendium an der Universität Oxford bekam.

Tränen in der Backstube

Eine fünfstellige D-Mark-Summe, so viel Geld für einen Bäckerbuben, das beeindruckte auch den Papa. Manchmal brachte der Sohn Kommilitonen mit in die Backstube, "früh um vier Uhr, weil es da schon die warmen Bamberger Hörnchen gab"; einmal, sagt Thomas Grethlein, "sind mir plötzlich die Tränen gekommen" - der hart arbeitende Vater, die fröhliche Studentenrunde, das ließ sich nicht auflösen in diesem Moment.

Als er sich, nach dem geplatzten Lebenstraum vom Professor, ähnlich verloren fühlte, "hat mir das Glück geholfen", sagt Grethlein. Ein kleiner Freundeskreis – "ein paar Freelancer", Grafiker und Softwareentwickler – suchte für ein Projekt mit zwei schwäbischen Bausparkassen eine "kommunikative Schnittstelle", wie Grethlein es nennt, einen Mann, der Konzepte schreiben und diese den Kunden vermitteln sollte, daraus wurde die Firma Mediendesign – "und ehemalige Uni-Kollegen haben darüber geschmunzelt, was ich jetzt mache". Multimedia, überlegt Grethlein, "damals war das ja noch völlig unbekannt".

Personalchef in Jena

Über einen Beratungs-Auftrag führte Grethleins Weg unvermutet zurück an die Universität, genauer: ans Universitäts-Klinikum von Jena, das Angebot, dort IT-Leiter zu werden, schlug er aus, ein Jahr später warben die Thüringer erfolgreich um ihn. Personalchef der Uni-Klinik? "Ich habe mich gefragt, ob ich das kann", sagt er – er konnte, auf einmal hatte er nicht mehr, wie in Nürnberg, die Verantwortung für 35 Mitarbeiter, sondern für 5000.

"Spannend" sei das gewesen, bloß, "in so einer riesigen Verwaltung beginnen die Dinge, sich zu wiederholen", nach fünf Jahren kehrte er zurück in die Heimat – nicht ahnend, dass er bald Verantwortung für noch viel mehr Menschen übernehmen würde, für einen ganzen Verein voller Verrücktheiten und Philosophien, der wieder einmal arg darniederlag. Seinen Lieblingsverein.

Der Rat von Freunden

Bei Mediendesign hatte er sich aus dem operativen Geschäft zurückgezogen, er gründete noch eine kleine Unternehmensberatungs-Agentur, die nach der Idee dahinter benannt ist: Der Freundeskreis. Freunde waren es auch, die Thomas Grethlein im Herbst 2014 zur Kandidatur für den Aufsichtsrat beim gerade aus der Bundesliga abgestiegenen 1. FC Nürnberg drängten. Selbst, sagt er, wäre er kaum auf die Idee gekommen, er sah den Club "als Gegengerade-Fan" im Stadion – oder in "einer der damals schon illegalen Raucher-Spelunken" (Grethlein); ähnlich sah auch der 1. FC Nürnberg aus – zwar nicht illegal, aber abgebrannt, trotzdem ließ sich Grethlein überreden. "Wenn ihr mich vorschlagt, drücke ich mich nicht", das war die Abmachung.

Für gleich fünf Posten im Gremium gab es 14 Bewerber, "ich habe eh keine Chance, ich halte meine Rede und gehe aufrecht wieder raus", das, sagt Grethlein, seien seine Gedanken gewesen, "ich war ja ein Nobody". Stattdessen ging er aufrecht hinein – kaum gewählt, war Grethlein auf einmal sogar Vorsitzender des Aufsichtsrates. Vom Fan zum Chef, fast über Nacht, "es war mir nicht recht", sagt Grethlein, aber weil sich von den vier verbliebenen langjährigen Mitgliedern des Gremiums niemand berufen sah, fügte er sich.


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Es ist ein Ehrenamt, für das es keinen Cent gibt, keine Aufwandsentschädigung, nicht einmal Spesen. Aber, ja, "eine Ehre" sei es schon. Auf einmal prominent zu sein, war ein ungewohntes Gefühl für diesen uneitlen Mann von ruhigem Naturell, er musste sich daran gewöhnen, auf der Straße angesprochen zu werden, manchmal freundlich, manchmal weniger nett.

Bier und Zigarre

Ob er die alten Freunde, die ihn überredeten, mitunter verflucht? Grethlein lacht, nein, aber der Aufsichtsratsvorsitzende spaltet gelegentlich auch diese Runde. Er erfährt Lob und Rückhalt, "du kriegst nichts hin" ist aber ein Satz, der schon auch fällt. Grethlein kennt das, er war lange genug Fan, manchmal selbst ein zorniger, und zum 1. FC Nürnberg gibt es mehr Meinungen, als Franken Einwohner hat, der Verein bewegt, immer. Thomas Grethlein mit dicker Zigarre und einer Flache Bier im Stadion: Dieses Fernsehbild genügte im Juli 2020, während der schicksalshaften Relegation gegen Ingolstadt, um Gemüter in Wallung zu bringen. Wie großartig! Wie peinlich!

Grethleins erste Amtszeit begann mit der Scheidung von Finanzvorstand Ralf Woy und der Beurlaubung des langjährigen Sportvorstands Martin Bader. Der Club stand am Abgrund, kurz vor der Insolvenz, Höhepunkt des geglückten Sanierungskurses war die Rückkehr in die Bundesliga, gefolgt vom Abstieg – der, um ein Haar, direkt weiter in die Drittklassigkeit geführt hätte.

"Wie eine Nahtod-Erfahrung"

"Wie eine Nahtod-Erfahrung" kam es Grethlein vor, "ich kann mich jahrelang nicht mehr in der Stadt sehen lassen", das schoss ihm durch den Kopf beim Relegations-Drama in Ingolstadt, dem ein spätes Zufallstor die letzte Wende gab – zugunsten des Clubs. Sein und Zeit, nicht mit Kant oder Heidegger, sondern mit Schleusener, dem Einwechselspieler Fabian Schleusener, dem dieses Tor glückte. Ansonsten, überlegt Grethlein, "hätte mich das für den Rest meines Lebens schwer beschädigt".

Die Tränen damals in der Backstube, die verzweifelten Monate nach dem Abschied von der Universität – und die Schlussminuten dieses Fußball-Dramas, Ingolstadt gehört zu seinen Lebens-Momenten. "Ich habe wirklich ganz bewusst an mein Herz gefasst", sagt Grethlein, er hatte Angst, dass es aussetzt. Bis er sich freuen konnte, dauerte es ein paar Tage, dann begann er, sich auf seine Abwahl vorzubereiten.

Wichtige Ziele bleiben

Dass er ein paar Monate später, bei der Kür der Aufsichtsräte während der Mitgliederversammlung, die meisten Stimmen erhielt, überraschte ihn selbst, er war auf einen Abschied eingerichtet. Was wohl für ihn sprach? Das Gremium, findet Grethlein, habe "an Professionalität gewonnen", die erfolgreiche Sanierung habe wohl Vertrauen geschaffen, aber "eines der wichtigsten Ziele, nämlich Kontinuität zu schaffen, haben wir nicht erreicht". Nach Bader mussten die Sportvorstände Andreas Bornemann und Robert Palikuca gehen, den "Verschleiß an Führungskräften" sieht Grethlein "auch als persönliches Manko".


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"Die unglaubliche Anhänglichkeit der Menschen an den Verein" sieht Thomas Grethlein als Verpflichtung, er bewegt sich jetzt ein Leben lang auf diesem "Resonanzboden für Emotionen", wie er sagt, nur: "Tief im Innersten versteht man es nie ganz". Die Denk-Übung Fußball, wie Kant eine Lebensaufgabe.

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