Krankheitsgeschichte Lipödem: Forchheimerin hat über 70 Kilo abgenommen

6.1.2021, 19:15 Uhr
Über 70 Kilogramm abgenommen: Kerstin Jungwirth hat deutlich an Lebensqualität gewonnen, seit die Krankheit Lipödem bei ihr diagnostiziert wurde.

© Andreas Hellmann/LunaLargo Über 70 Kilogramm abgenommen: Kerstin Jungwirth hat deutlich an Lebensqualität gewonnen, seit die Krankheit Lipödem bei ihr diagnostiziert wurde.

Zuerst war da Erleichterung und dann auch ganz viel Wut. Kerstin Jungwirth aus Forchheim, 30 Jahre alt, hat eine chronische Krankheit, das Lipödem. Dabei tritt vermehrtes Fettgewebe auf, vor allem an Beinen, Hüfte, Gesäß, auch an den Armen. Hinzu kommen Schmerzen.

Kerstin Jungwirth will anderen mit ihrer Geschichte Mut machen.

Kerstin Jungwirth will anderen mit ihrer Geschichte Mut machen. © Roland Fengler

Vor vier Jahren im Sommer, als sie gerade 26 Jahre alt war, erhielt sie die Diagnose. Dass die Krankheit überhaupt bei ihr entdeckte wurde, hat sie dem reinen Zufall zu verdanken. "Ich war schon länger übergewichtig und habe immer gedacht, dass das einfach meine eigene Schuld ist", sagt sie.

Deshalb überkam sie nach der Diagnose totale Erleichterung: "Einfach zu wissen, dass es eine Krankheit ist, dass ich nicht selbst schuld bin", sagt sie. Aber dann mischte sich Wut hinein: "Warum kam das erst jetzt heraus? Warum habe ich all die Jahre gelitten?!", beschreibt sie ihre Gedanken. All die verurteilenden Blicke von Fremden im Sommer, beim Eisessen, die Schmerzen, das unangenehme Gefühl beim Einkaufen, wenn einfach nichts passen wollte.

Schmerzen als Teil des Alltags

Trotzdem stand die heute 30-Jährige selbstbewusst auf der Bühne, die bei der Theatergruppe Forchheimer Brettla aktiv ist. Die Symptome hatte die Forchheimerin zuvor als solche gar nicht erkannt. Sie hatte Übergewicht – ihr Höchstgewicht lag einmal bei fast 145 Kilogramm – dicke Oberschenkel und Arme mit Dellen oder Einbuchtungen, Schmerzen in den Beinen und bekam generell leicht blaue Flecken.

"Ich hatte öfter so ein Ziehen im Bein, aber habe gedacht, dass es einfach vom Übergewicht kommt, das sozusagen auf die Knochen drückt – und habe nicht realisiert, dass das mit dem Lymphsystem zusammenhängen könnte", sagt sie.

Ihr Vater hat zufällig etwas von einer Schauspielerin mit der gleichen Krankheit gelesen – und die Symptome seiner Tochter erkannt. "Er meinte, schau dir das mal an, ob du das nicht auch haben könntest", erzählt die gelernte Steuerfach-Angestellte.

"Dachte, ich bin einfach nur fett"

Für die Familie war die Diagnose nicht leicht. "Meine Eltern haben sich Vorwürfe gemacht, dass sie mir nicht früher helfen konnten und ihnen nie in den Sinn gekommen war, dass es eine Krankheit sein könnte", sagt die 30-Jährige.

Die Eltern hatten ihre Tochter ja leiden sehen. Vorwürfe macht sie ihnen keine, sie hatte selbst ja auch keine Krankheit vermutet. "Ich dachte immer: Ich bin einfach nur fett." Übergewicht hatte sie schon länger und das kam ihr nicht sonderlich ungewöhnlich vor: "In meiner Familie sind einige stämmig."

Dass die Krankheit lange völlig unerkannt blieb, ist bei Betroffenen des Lipödems ein typischer Verlauf. "Vor 20 Jahren war die Krankheit unter Medizinern kaum bekannt", berichtet Dr. Hans-Joachim Mörsdorf – zusammen mit Dr. Anne Mörsdorf und Dr. Sina Herschel Inhaber der haus- und fachärztlichen Gemeinschaftspraxis "Dr. Mörsdorf & Herschel" in Pretzfeld. Sein Schwerpunkt ist Lymphologie.

Wenn gar nichts hilft

Für die Betroffenen sehr belastend: Übergewichtige versuchten abzunehmen, machten Sport, stellten ihre Ernährung um und trotzdem half gar nichts – und Ärzte erkannten die Krankheit nicht. "Häufig hielten Mediziner das Lipödem für Adipositas", also für starkes Übergewicht.

Laut Schätzungen gibt es 3,8 Millionen Erkrankte in Deutschland, Experten gehen aber von einer hohen Dunkelziffer aus. Lipödem-Patienten haben häufig auch ein Lymphödem. Während beim Lipödem vermehrtes Fettgewebe vorliegt, bedeutet ein Lymphödem dagegen vermehrte Gewebsflüssigkeit. "Sie enthält Eiweiße und Abfallstoffe und ist zähflüssiger als Wasser", erklärt Mörsdorf. Bei diesem Stau der Lymphflüssigkeit schwellen Arme und Beine an.

Die Ursachenforschung

Noch sind die genauen Ursachen unerforscht. Das Lipödem betrifft fast nur Frauen. Hormonelle Umstellungen beeinflussen die Krankheit. "Sie kann nach der Pubertät, einer Schwangerschaft oder in den Wechseljahren besser, aber auch schlechter werden", so Mörsdorf. Sport ist wichtig, aber er rät: "Nicht zu intensiven Sport betreiben, sonst ist die Belastung zu hoch."

Das Lipödem lässt sich nicht heilen, es ist chronisch, aber die Symptome können behandelt und so die Beschwerden gelindert werden – durch Kompressionstherapie, Lymphdrainagen, gesunde Ernährung und Sport. Als Behandlungsmöglichkeit gilt bei einem sehr schweren Stadium auch eine Fettabsaugung, die sogenannte Liposuktion.

Über 70 Kilogramm abgenommen

Kerstin Jungwirth macht täglich Sport. Sie geht spazieren, Radfahren oder joggen, macht Training auf dem Fitnessbike, Aquasport oder trainiert im Fitnessstudio. Zudem hat sie ihre Ernährung umgestellt und trägt Kompressionen. Sie hat inzwischen über 70 Kilogramm abgenommen. Und das ganz ohne Magenverkleinerung oder Fettabsaugung.

"Es motiviert mich total zu sehen, was alles möglich ist", sagt sie. Früher dachte die 30-Jährige, dass sie einfach nicht abnehmen könne. "Heute weiß ich, wie mein Krankheitsbild ausfällt und was ich beachten muss, damit alle Maßnahmen ineinandergreifen." Freunde und Familie unterstützen sie dabei.

Kompressionsstrümpfe für Arme und Beine sind für sie unverzichtbar: "Früher war es schon schwer, sich zum Sport zu motivieren, weil das schwankende Fettgewebe es äußerst schwer und unangenehm macht." Ein Manko: "Die Krankenkassen bezahlen oft nur zwei Kompressionsstrümpfe im Jahr."

Kompressionen für die Arme kosteten bis etwa 400 Euro, eine Strumpfhose etwa 600 bis 800 Euro. "Wenn sie nicht richtig sitzt, merkt man das einfach und es ist nicht so effektiv", sagt Jungwirth. Für einige Betroffene sei es "ein durchgängiger Kampf", die Kompression genehmigt zu bekommen. Auch Operationen bezahlen gesetzliche Krankenkassen bislang nur in Einzelfällen.

Selbsthilfegruppe gegründet

Kerstin Jungwirth kennt etwa 20 Betroffene im Landkreis. "Ich habe begonnen, eine Selbsthilfegruppe zu gründen", berichtet sie. Die 30-Jährige will anderen mit ihrer Geschichte Mut machen. "Es gibt noch so viele Betroffene, die es wahrscheinlich gar nicht wissen, weil sie aus Scham nicht zum Arzt gehen und denken, sie sind einfach dick", sagt sie.

Die Forchheimerin ist unglaublich dankbar: "Die Diagnose hat mein Leben verändert – und zwar komplett zum Guten." Sie will die Krankheit bekannter machen – damit Betroffene sie erkennen – und so deutlich an Lebensqualität gewinnen können.

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