Flucht vor den Taliban

Selbst in Franken, die Familie in Afghanistan

21.8.2021, 07:04 Uhr
Hunderte von Afghanen scharen sich an einer Absperrung vor einem US-Transportflugzeug auf dem internationalen Flughafen in Kabul. Die Lage im Land ist nach wie vor chaotisch. Schon früher geflüchtete Angehörige, insbesondere von Ortskräften der westlichen Alliierten, aber auch ganz generell von Taliban-Kritikern, Frauen und Mädchen, sorgen sich auch in Deutschland um das Schicksal ihrer Familien.  

© -, NN Hunderte von Afghanen scharen sich an einer Absperrung vor einem US-Transportflugzeug auf dem internationalen Flughafen in Kabul. Die Lage im Land ist nach wie vor chaotisch. Schon früher geflüchtete Angehörige, insbesondere von Ortskräften der westlichen Alliierten, aber auch ganz generell von Taliban-Kritikern, Frauen und Mädchen, sorgen sich auch in Deutschland um das Schicksal ihrer Familien.  

„Unsere Körper sind hier, aber unsere Herzen und Seelen in Afghanistan.“ Komplett zerrissen fühlt sich der 20-jährige Shaiq. Zerrissen zwischen dem guten Leben, das er in Roth gefunden hat, und der furchtbaren Sorge um seine Familie in Afghanistan.

Zwei Freunde sitzen mit am Tisch, denen es genauso geht. Shoaeb, ebenfalls 20, verfolgt ohnmächtig aus der Ferne die verzweifelten Versuche seiner Familie, das von den islamistischen Taliban überrannte Land zu verlassen und die Frau seines in Nürnberg lebenden Bruders aus Afghanistan herauszuholen. Der ein paar Jahre ältere Kazem hat es zu Hause bei seiner kleinen Familie in Oberfranken einfach nicht mehr ausgehalten. Er habe sich freigenommen, weil er in der Arbeit keinen klaren Gedanken mehr fassen könne vor lauter Angst um seine Eltern.

Die Sorgen teilen

Bei den beiden Freunden in Roth, mit denen er sich seit der gemeinsamen Zeit in der Gemeinschaftsunterkunft in Ebenried verbunden fühlt, gehe es etwas besser, sagt Kazem. „Wir sind psychisch am Ende. Das Einzige, was uns im Moment wenigstens ein bisschen hilft, ist, unsere Angst zu teilen, miteinander zu reden und sicher sein zu können, dass der andere weiß, was man fühlt.“

Alle drei sind als Teenager allein von zu Hause weg und 2015 in Deutschland angekommen. Shaiq stammt aus Kundus, Kazem aus Herat, ganz im Westen Afghanistans, und Shoaeb aus Tachar, ganz im Norden. Sie alle haben Dinge erlebt, die schwer auf ihren Psychen lasten.

Gemeinsam haben sie zwei Jahre lang eine Integrationsklasse der Rother Berufsschule besucht, haben Ausbildungen gemacht und sich hier eine Existenz mit guten, festen Stellen aufgebaut. Sie haben Pläne geschmiedet, wollten alle drei heuer nach sechs Jahren endlich die Familien im Heimatland besuchen.

„Ich habe nur noch Angst“

„Und dann kommt das.“ Shaiq kann es immer noch nicht fassen. „Ich habe schreckliche Angst, dass ich sie jetzt nie mehr wiedersehe.“ Er finde keine Ruhe mehr, könne nicht mehr schlafen, werde die furchtbaren Bilder nicht mehr los. „Ich habe einfach nur noch Angst.“

Die drei jungen Männer starren auf ihre Handys, sitzen vor dem Fernseher und können kaum aushalten, was sie sehen und hören. Die Nachrichten, die sie direkt aus der Heimat erhalten, machen es eher schlimmer als besser. Täglich versuchen sie Eltern, Geschwister und Freunde zu erreichen. Das wird immer schwieriger. „Mal gibt es keinen Strom, mal kein Internet.“ Es sei furchtbar, wenn man über Stunden keinen Kontakt bekommen kann. Es geht ja alles grade so schnell.

Shaiq ist sich sicher, dass seine Familie ihm nicht alles erzählt. „Das Verrückte ist, dass sie nicht wollen, dass ich mir Sorgen mache.“ Aber er weiß, dass sie die Nächte schlaflos im Keller verbringen, dass sie draußen Schüsse hören, dass sie keine Idee haben, wie das alles weitergehen könnte. „Es ist eine Katastrophe“ ist alles, was sie ihm sagen. Sie trauen sich nicht mehr vor die Tür, gehen nicht mal mehr einkaufen.

Shoaeb zeigt ein Foto, das ihm seine Mutter geschickt hat. Patronenhülsen, die sie im Hof ihres Wohnhauses aufgesammelt hat. Er hat zwei jüngere Schwestern. Was die Taliban ihnen antun könnten, mag er sich gar nicht vorstellen.
Sein Vater hat als selbstständiger Bauunternehmer im Auftrag der Deutschen und Amerikaner Schulen und Straßen gebaut. Vor zwei Wochen haben die Taliban seine Stadt eingenommen. Er hätte alle Papiere in der Hand, um ausreisen zu können, aber keinen Kontakt zu irgendwelchen offiziellen Stellen in Kabul. „Sie haben ein Versprechen bekommen, aber niemanden, der sich für sie zuständig fühlt.“

„Sie haben keine Kraft mehr“

Sie werden es trotzdem versuchen, den Flughafen irgendwie zu erreichen. Man sieht die Angst in den Augen des jungen Mannes. „Morgen.“ Kazems Familie wird in Afghanistan bleiben. Er hat viele Monate versucht, sie zur Ausreise zu überreden. Sie werden nicht kommen.

Schon einmal hatten sich die Eltern vor vielen Jahren auf den Weg gemacht, haben eine schlimme Zeit als Flüchtlinge im Iran erlebt und sind dann zurück nach Afghanistan. „Sie haben keine Kraft mehr. Ich muss das akzeptieren, auch wenn es mir sehr schwer fällt.“

Mit den Taliban werde es keinen Frieden für Afghanistan geben, sind sich die drei einig. Bei den vielen Berichten aus Kabul, die derzeit weltweit gezeigt werden, werde viel zu wenig in die anderen Teile des Landes geschaut, bedauern sie. Dort sei Krieg. Die Taliban würden schwerbewaffnet von Haus zu Haus gehen und die Bewohner nach Kontakten mit dem Westen fragen. Überall seien Straßensperren, die Taliban würden alle Wege kontrollieren und mit ihren Maschinengewehren in der Gegend herumballern.

Erschießungen und Hängungen

Shaiq hat Sorge, dass es seiner Familie schaden könnte, wenn die Taliban herausfinden, dass der Sohn nach Deutschland geflohen ist. Es gebe Erschießungen. Im Norden des Landes seien afghanische Soldaten aufgehängt worden. Freunde vor Ort berichten das. Es sei Krieg, auch wenn sich die Taliban im Moment offiziell friedlich geben.

„Wir glauben kein Wort von dem, was die Taliban-Sprecher in der Hauptstadt in die Mikrofone sprechen“, sagen die drei jungen Männer in Roth. Es werde kein Verzeihen, keine Gerechtigkeit, keine Menschlichkeit mit diesen Herrschern geben. „Es sind genau die gleichen Unmenschen wie vor 20 Jahren, die gezielt Angst und Schrecken verbreiten, um Macht zu bekommen.“

Das Furchtbarste an der Situation sei, dass sich niemand vorstellen kann, wie es mit dem Land weitergehen soll. „Wir sind nicht hoffnungslos“, sagt Shaiq. „Aber wir kommen nicht zur Ruhe. Und das wird lange Zeit so bleiben.