"Moria ist die Hölle auf Erden"

6.6.2021, 18:54 Uhr
Geflüchtete im griechischen Lager Moria protestieren gegen die Situation im Camp. Sebastian Wells besuchte das Lager seit 2017 mehrfach, zuletzt im Oktober 2020, nach dem verheerenden Großbrand am 9. September 2020.

© Sebastian Wells/OSTKREUZ, NNZ Geflüchtete im griechischen Lager Moria protestieren gegen die Situation im Camp. Sebastian Wells besuchte das Lager seit 2017 mehrfach, zuletzt im Oktober 2020, nach dem verheerenden Großbrand am 9. September 2020.

Herr Wells, 24 Flüchtlingslager von innen zu sehen – ist das nicht sehr deprimierend?
Sebastian Wells: Ja, das war auf jeden Fall eine deprimierende Erfahrung, die schon vorher bei den Recherchen begonnen hat und mir unmittelbar bewusst gemacht hat, wie privilegiert wir hier sind. Gleichzeitig denke ich, dass man sich vor dieser Erfahrung nicht drücken darf. Man muss sich diese globalen Ungleichheiten vor Augen führen. Sonst ändert sich nichts daran.

War es schwierig, Einlass in die Lager zu bekommen?
Wells: Unterschiedlich. Je mehr man nach Europa kommt, desto größer ist in der Regel der bürokratische Aufwand, damit man an solchen Orten fotografieren darf. Man muss viel telefonieren, Emails schreiben und auch Empfehlungsschreiben vorlegen, damit einem die zuständigen Behörden vertrauen. Und man muss natürlich auch das Vertrauen von den Leuten gewinnen, die dort leben und die wir die Geflüchteten nennen.

Wie sind die Ihnen die Geflüchteten begegnet?
Wells: Es waren meistens absolut normale Begegnungen, die sich nicht großartig unterscheiden von Begegnungen mit Menschen hier auf der Straße. Aber was es anfangs sehr schwierig gemacht hat, ist, dass ich meistens in Begleitung von vielen „Offiziellen“ aus dem Camp war, die meine Arbeit überwacht haben. Das Ganze wirkte wie eine Inszenierung, als wär’ das ein Staatsbesuch. Diese Inszenierung war oft die größte Hürde, die ich überwinden musste, um mit den Menschen in Kontakt zu kommen. Für die Lager in Griechenland wurden auch überhaupt keine Genehmigungen erteilt. Dort habe ich mich illegal eingeschlichen, da musste ich dann zwar keine Inszenierung loswerden, aber aufpassen, dass ich nicht erwischt werde.


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Hilfsorganisationen beklagen immer wieder die katastrophalen Zustände in den Lagern, besonders in Griechenland. Wie haben Sie die Situation erlebt?
Wells: Das ist sehr unterschiedlich. Für das „Utopia“-Projekt war ich hauptsächlich an Orten, die nicht im Zentrum des öffentlichen Interesses stehen, die irgendwann in so einen Dauerzustand übergegangen sind. Moria, wo ich insgesamt fünf Mal war, auch unabhängig von dem Projekt, ist sicher ein Spezialfall. Das ist wirklich die Hölle auf Erden, da möchte niemand leben. Es ist ein absolutes Desaster, was sich die EU dort leistet. Aber abgesehen von dem, was man sich meistens vorstellt – Essen, Trinken, Kleidung, Medikamente und so weiter –, fehlt es in den Lagern vor allem an Unabhängigkeit und Autonomie für die Menschen. Dass sie Entscheidungen für sich selber treffen können, gewisse Rechte haben.

Ein Geflüchteter ist ja dummerweise kein Staatsangehöriger in dem jeweiligen Land, er kann nicht wählen gehen, kann elementare Rechte nicht ausüben. Ich denke, das ist das eigentliche Problem: dass Menschen, die in Flüchtlingslagern leben, in der Regel wie Gefangene behandelt werden. Die Autonomie, die jeder Mensch haben sollte, fehlt dort ganz massiv. Die wird den Geflüchteten genommen.


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Welche Eindrücke haben Sie besonders berührt oder betroffen gemacht?
Wells: Insgesamt hat mich immer wieder die Kreativität, der Einfallsreichtum der Menschen berührt. Das Interessante an diesen Lagern, die nur temporär gedacht waren und die es dann für lange Zeit gibt, ist, dass sie Substrukturen entwickeln und sich innerhalb der wahnsinnig vielen Grenzen ein Eigenleben entwickelt, so etwas wie eine eigene Kultur. Das zu sehen, ist sehr spannend und auch schön und einer der wenigen positiven Aspekte, wenn man sich mit Flüchtlingslagern beschäftigt.

Nach dem Brand in Moria sind die Flüchtlinge, die in Europa Schutz suchten, wie diese Frau mit ihren Kindern, erneut auf der Flucht.

Nach dem Brand in Moria sind die Flüchtlinge, die in Europa Schutz suchten, wie diese Frau mit ihren Kindern, erneut auf der Flucht. © www.kpic.at, NN

Wie haben Sie dann die Stimmung in den Lagern erlebt?
Wells: Für viele Flüchtlinge ist es ganz normal, dort zu leben. Es gibt ja nicht nur die Fälle wie Moria, wo es einfach nur katastrophal ist. In vielen anderen Lagern ist eine Art von Alltag eingekehrt. Das ist die Realität, die man nicht ändern kann als geflüchteter Mensch. Dann hat man keine andere Wahl, als das zu akzeptieren und das Beste draus zu machen. In Dadaab in Kenia oder in Zaatare in Jordanien etwa ist das so. Die Stimmung ist nicht gut, nicht schlecht. Es ist einfach so, wie es ist.

Dadaab, das Lager in Kenia, gibt es seit rund 30 Jahren…
Wells: Ja, das war auch eines der ersten Lager, durch das ich zu meinem „Utopia“-Projekt gekommen bin. Als ich 2016/2017 begonnen habe, zu recherchieren, sollte Dadaab geräumt werden, weil es von der kenianischen Regierung hieß, in diesem Lager, in dem hauptsächlich Flüchtlinge aus Somalia leben, würde die somalische Al-Schabaab-Miliz Terroristen rekrutieren. Deshalb sollten die Menschen an einen anderen Ort umgesiedelt werden. Aber viele wohnen dort seit 30 Jahren, sind teilweise dort geboren und kennen überhaupt nichts anderes. Da muss man sich natürlich fragen, wie soll das denn funktionieren, wenn 250000 Menschen einfach von heute auf morgen an einen anderen Ort gebracht werden. Das ist eigentlich unvorstellbar. Man nimmt ihnen quasi ihr Zuhause weg.


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Wollen Sie mit „Utopia“ auch Kritik üben an der europäischen Flüchtlingspolitik beziehungsweise allgemein an unserem Umgang mit Flüchtlingen?
Wells: Ja, auf jeden Fall. Aber nicht in dem Sinne, dass ich wüsste, wie man es besser macht, sondern als Diskursbeitrag. Natürlich ist es problematisch, dass wir durch die Entwicklungshilfe der Europäischen Union Abhängigkeitsverhältnisse schaffen und konstant verstärken. Fünf der Lager, in denen ich war, befinden sich nicht in der Europäischen Union und in diese Länder fließen wahnsinnig viele Gelder der Entwicklungshilfe, um Menschen davon abzuhalten, nach Europa zu kommen.

Das ist in Ihren Augen der falsche Weg?
Wells: Ja, weil ich glaube, dass man nur durch immer weiter Helfen die Ursachen für diese krassen Missverhältnisse nicht beseitigen kann. Die Strukturen in den Ländern müssten sich ändern, und vor allem müssten wir unsere Vorstellung von Geflüchteten hinterfragen. In der westlichen Darstellung werden sie gebrandmarkt. Aber das sind genauso Menschen wie wir, und wir sollten sie auch so behandeln. Meine Lieblingsvision zur Lösung des Problems ist die Einführung eines globalen Steuersystems. Wir können in Deutschland super zusammenleben, weil wir Steuern zahlen. Doch wir führen heute auf der ganzen Welt Handel, deshalb müsste man auch ein Steuersystem auf internationaler Ebene einführen. Die Idee ist leider Lichtjahre entfernt von jeder Umsetzung. Aber diese häppchenhafte Flüchtlingspolitik der EU hilft niemandem wirklich.

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