Unterwegs in Denkendorf

Gorbatschow im Altmühltal

25.8.2021, 18:23 Uhr
Mitten im Ort: Das Denkmal für die deutsch-russische Freundschaft. Warum Natascha etwas mehr Patina angesetzt hat als Hans, erklärt sich mit einer abenteuerlichen Geschichte.

© e-arc-tmp-20210809_183637-3.jpg, NNZ Mitten im Ort: Das Denkmal für die deutsch-russische Freundschaft. Warum Natascha etwas mehr Patina angesetzt hat als Hans, erklärt sich mit einer abenteuerlichen Geschichte.

Einer der Großen der jüngeren Weltgeschichte hat hier Spuren hinterlassen. Wer mag, kann sogar in seine Fußstapfen treten, im Wortsinn, sie sind hier in Bronze gefasst. Michail Gorbatschow, Schuhgröße etwa 42, das nimmt man mit – und sogar einen Hauch von Weltgeschichte, einen kleinen und besonderen. „Politik muss sich nicht in Hauptstädten abspielen“, das hat Gorbatschow hier, im Herzen von Bayern, gesagt.


Christian Holtz ist der Arzt in Denkendorf - und der Außenminister der Gemeinde

Christian Holtz ist der Arzt in Denkendorf - und der Außenminister der Gemeinde © e-arc-tmp-20210809_183637-2.jpg, NNZ

Das Herz von Bayern, damit wirbt der Ort für sich. Denkendorf im Altmühltal kennt tatsächlich fast jeder – vom Vorbeifahren auf der Autobahn, die A 9 ist heute das, was früher der Limes war. Auf sieben Kilometern verlief der römische Grenzwall durch das heutige Gemeindegebiet, das in Oberbayern liegt – aber noch nicht sehr lange. Gebürtige Mittelfranken nennen sich die älteren Einwohner, erst mit der Gebietsreform von 1972 wurde Denkendorf wie der gesamte Landkreis Eichstätt nach Oberbayern verlegt.

Gäste aus halb Europa


Heute prägt die Autobahn das 3500-Einwohner-Dorf: zwei Tankstellen, ein Imbiss, vor der schönen Postgaststätte stehen Reisebusse. Gäste aus halb Europa machen hier Station, die Pension gegenüber der Post heißt „Hotel A 9“. Die Autobahn war oft auch der Arbeitsplatz von Christian Holtz – wenn er als Notarzt unterwegs war; heute trifft man ihn mitten im Ort.


Michail Gorbatschows Fußspuren in Denkendorf, gefasst in Bronze.   

Michail Gorbatschows Fußspuren in Denkendorf, gefasst in Bronze.   © e-arc-tmp-20210809_183637-1.jpg, NNZ

Hier, direkt hinter Gorbatschows Fußabdruck, hat er seine Praxis, er ist 75 Jahre alt, sieht viel jünger aus und denkt nicht an den Ruhestand. Christian Holtz ist ein beliebter Arzt, aber noch viel mehr als das, er ist Gemeinderat und, so hat ihn der ehemalige Bürgermeister Alfons Weber genannt, „der heimliche Außenminister“ einer Gemeinde, für die ein Auswärtiges Amt tatsächlich keine zu große Vorstellung ist.

Politik auf dem Dorf


Wer die Autobahnausfahrt nimmt, bekommt schnell eine Ahnung davon. Gleich hinterm Rathaus tanzt ein bayerischer Bub mit einem russischen Mädchen, Hans und Natascha heißen sie im Volksmund, es sind zwei überlebensgroße Figuren aus Bronze. Gefertigt hat sie der russische Bildhauer Dimitri Ryabitchev – sie erinnern daran, wie sich Politik auf dem Dorf abspielen kann.


Christian Holtz, geboren in Heidelberg, aufgewachsen in Denkendorf, wo seine aus Schlesien geflüchteten Großeltern eine neue Heimat fanden, entdeckte seine Liebe zu Russland schon nach seinem Abitur 1966, während einer Busreise nach Lemberg, Kiew, Kursk und Moskau.

Faszination Russland


Mit großer Herzlichkeit, erzählt er, seien die jungen Deutschen knapp zwei Jahrzehnte nach dem Weltkrieg empfangen worden. Das ließ ihn nicht mehr los. „Der Holtz, der spinnt“, das hat er, wie er erzählt, aber schon auch gehört, als ihm die Idee kam, eine Brücke über den Eisernen Vorhang zu bauen, von Denkendorf aus.


Als dann 1980, mitten im Kalten Krieg und nach längerem diplomatischen Vorlauf, 80 Denkendorfer – darunter die Blaskapelle – im Flughafen von Moskau standen, mutete das an wie ein kleines Wunder. Sogar die 13 Fässer Bier brachten sie durch den Zoll, weil, wie sich Christian Holtz erinnert, der misstrauische Offizier in seinen Unterlagen nichts darüber fand, wie mit Freibier amtlich zu verfahren sei. Die Fässer leerten sie gemeinsam. Im Jahr der von weiten Teilen des Westens boykottierten Olympischen Spiele von Moskau „haben wir mitgeholfen, ein Vakuum zu füllen“, sagt Holtz.

Der Partner Gorbatschow


Es war der Beginn der Partnerschaft mit dem Moskauer Stadtteil Krasnja Presnja, in dem ein damals noch weithin unbekannter junger Politiker lebte. Ein Jahr später folgte der Gegenbesuch, im August 1986 unterzeichneten beide Partner im Denkendorfer Rathaus einen Freundschaftsvertrag – und im Sommer 1989, kurz bevor der Eiserne Vorhang fallen sollte, zogen Natascha und Hans in Denkendorf ein.


Der 1980 noch weithin unbekannte junge Politiker aus Krasnja Presnja war derweil, im März 1985, Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion geworden und hatte begonnen, die Welt zu verändern.

Strauß half mit

Dass der Holtz immer noch ein wenig spinnt, glaubten sie in Denkendorf trotzdem, als ihr Gemeindearzt über die Botschaft in Bonn um einen Besuch von Michail Gorbatschow bei den Freunden im Altmühltal warb, unterstützt von Franz Josef Strauß. Der bayerische Ministerpräsident hatte die Schirmherrschaft über die besondere Freundschaft übernommen.


Besucher aus Russland hatte Denkendorf da zwar schon regelmäßig empfangen, im Sommer 1992 war Valentina Tereschkowa zu Gast, 1963 berühmt geworden als erste Frau im Weltall. Aber es kam trotzdem einer Art Mondlandung gleich, als am 26. Juli 1993 ein Autokonvoi die Ausfahrt der A 9 nahm. Michail Gorbatschow und seine Frau Raissa, gekommen von den Bayreuther Festspielen, standen dann leibhaftig neben Hans und Natascha – und enthüllten ein neues Denkmal, das Strauß und den damals schon Ex-Präsidenten der Sowjetunion verewigt.

Spanferkel in Dunkelbiersoße


Im Festsaal des Lindenwirts tischten die Denkendorfer Spanferkel in Dunkelbiersoße auf, „der berühmteste Politiker der Welt“ (wie die Mittelbayerische Zeitung schrieb) lobte seine Gastgeber als in ihrem Engagement beispielhaft für die große Politik. Im schönen Wirtshaus hängen noch die Bilder davon, sie zeigen Gorbatschow mit einem großen Bierkrug, drumherum strahlende Gesichter. „Ich glaube, es hat ihm gut gefallen bei uns“, sagt Christian Holtz – so gut, dass er den Außenminister von Denkendorf 2006 zur Feier seines 75. Geburtstags nach Moskau einlud.


Die Brücke wurde immer breiter; mit seinem damaligen bundesdeutschen Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier flog Christian Holtz 2015 nach Wolgograd. Im ehemaligen Stalingrad erinnert heute die in Denkendorf geplante Friedenskapelle auf dem Soldatenfriedhof Rossoschka, eine seiner besonderen Herzensangelegenheiten, an die Toten der fürchterlichen Schlacht – „all die Namen überwiegend sehr junger Menschen zu lesen, war sehr bewegend“, sagt Christian Holtz.

Die Madonna von Stalingrad


Konrad Weber, der katholische Gemeindepfarrer, gehörte zur Delegation; vor seiner schönen St. Laurentius-Kirche, in der Christian Holtz’ Großvater einst Organist war, steht ein besonderes Kreuz. Darauf zu sehen ist die Madonna von Stalingrad, gefertigt nach der berührenden Kohlezeichnung des 1944 in russischer Kriegsgefangenschaft gestorbenen evangelischen Pfarrers Kurt Reuber. Im Sommer 2010 stand die ehemalige Weltkriegs-Soldatin Vera Petrowna Schelesnikowa, damals 85 Jahre alt, am Kreuz der Madonna, „Brüder“ nannte sie die Gastgeber.


„Es tut gut zu sehen, wie Völkerverständigung wächst“, sagt Konrad Weber, der als junger Eichstätter Seminarist dabei war, als Gorbatschow nach Denkendorf kam. „Ich glaube, er wurde nirgendwo so sehr bewundert wie bei uns“, überlegt der Pfarrer. Er war schon mit Schülern in Russland, seit 2005 pflegen sie diesen Austausch, und 38 Jahre nach dem Olympia-Boykott erlebten Denkendorfer Fußballfreunde die Weltmeisterschaft 2018 in Russland, eingeladen von den Freunden aus Krasnja Presnja. Die „zweite Heimat“, so steht es in der Chronik der 102 Jahre alten Blaskapelle, sei Moskau inzwischen geworden.

Diebe klauten Hans


Bloß Hans war, kurz vor Weihnachten 2018, eines nachts verschwunden. Wohin, ist bis heute unklar. „Schon besonders, weil nicht alltäglich“ sei das gewesen, sagt Nicole Hirschberger von der für Denkendorf zuständigen Polizei in Beilngries, die damals vergebens nach Zeugen suchte. Dass die rund eine Tonne schwere Figur mitten aus dem Ort unbemerkt entführt werden konnte, nennt die Polizeihauptmeisterin „verblüffend“. Aber es fanden sich keine verwertbaren Spuren, „und wir wussten ja, dass sich keiner den Hans in den Garten stellt“.

"Einfach eingeschmolzen"


„Einfach eingeschmolzen“, vermutet Pfarrer Weber, sei der Hans geworden. „Die Leute waren sehr betrübt“, erzählt er, die deutsch-russische Freundschaft sei ja auch ein Antrieb für das rege Gemeindeleben. Er ist hier gerne Seelsorger, „die Menschen sind engagiert im Ehrenamt“. Alleine blieb Natascha aber nicht lange. Christian Holtz flog wieder einmal nach Moskau, dort steht seit 1998 eine Kopie des Denkmals, als Kopie der Kopie kam ein neuer Hans nach Denkendorf. Der Austausch funktioniert auf allen Ebenen.

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