"Ob 2G ausreichen wird, weiß ich nicht"

"Notschalter": Erlanger Virologe bringt Lockdown für alle ins Gespräch

11.11.2021, 17:22 Uhr
 Prof. Dr. med. Klaus Überla, Direktor des Virologischen Instituts Erlangen, im Interview.

© Franziska Männel/Uni-Klinikum Erlangen  Prof. Dr. med. Klaus Überla, Direktor des Virologischen Instituts Erlangen, im Interview.

Viele Fachleute sind überrascht von der Heftigkeit der vierten Welle. Sie auch?

Klaus Überla: Ehrlich gesagt, nein. Ich hatte sie schon zwei Wochen früher erwartet. Letztlich wissen wir seit Ende September, dass wir in diesem Winter ein großes Problem bekommen.

Haben Sie eine Erklärung, warum die Inzidenzen so hochgehen? Das war in den drei vorangegangenen Wellen nie so.

Die Übertragungsraten sind beim aktuell zirkulierenden Deltavirus sehr viel höher als die der Varianten zuvor. Das gleichen die Impfraten nicht mehr aus, die wir bis September erzielt haben. Im Moment gibt ein Infizierter das Virus an mehr als einen Menschen weiter. Das ist exponentielles Wachstum. Und damit steigen die Werte rasant.

Mit welchen Werten rechnen Sie?

Wir erwarten bei den gegenwärtigen Übertragungsraten eine Verdoppelung alle zwei bis drei Wochen.

Das hieße, dass wir bis Weihnachten weit über tausend liegen könnten?

Wenn sich nichts ändert, ja. Aber die Menschen sehen die Gefahr, die gerade entsteht. Sie verhalten sich auch ohne konkrete politische Vorgaben vorsichtiger. Damit werden wir vermutlich nicht ganz die hohen Werte erreichen, die wir theoretisch auf dem Papier ausrechnen.

"Lockdown für alle"

Österreich stellt gerade auf 2G um und damit auf eine harte Linie. Sehen Sie Ähnliches für Deutschland kommen, am Ende einen erneuten Lockdown?

Ob 2G ausreichen wird, weiß ich nicht. Wir brauchen einen Notschalter, falls die Intensivstationen wirklich zusammenbrechen sollten. Das kann ein Lockdown sein. Letztlich ist es am wenigsten belastend, wenn wir diesen sehr kurz und sehr heftig ansetzen.

Sie sprechen von einem Lockdown für alle, nicht nur für Ungeimpfte?

Das wäre ein Lockdown für alle. Wohlgemerkt: Es ist ein Notschalter, über den wir uns jetzt Gedanken machen sollten. Selbst wenn wir die Entwicklung bremsen, werden wir über Wochen sehr hohe Infektionsraten haben. Das ist für die Intensivstationen eine riesige Belastung. Es führt zu vielen Infektionen und Todesfällen. Mit einem eher starken und konsequenten Lockdown können wir in kurzer Zeit die Infektionszahlen um das Vierfache reduzieren.

Kurz und stark heißt?

Einen Lockdown sowohl in der Arbeit als auch im Privaten. Was aus Sicht der Politik der richtige Maßnahmenmix ist, muss sie entscheiden. Für uns Mediziner ist entscheidend, dass wir nicht halbherzig, sondern richtig handeln. Dann schaffen wir es in den Frühling.

Auffrischimpfungen

Welche Rolle spielt das Boostern?

Das ist ganz entscheidend. Im Moment belasten die über 60- und über 70-Jährigen die Intensivstationen, die es trotz Impfung wegen ihrer Vorerkrankungen trifft. Mit gezielten Auffrischimpfungen dieser Risikogruppen können wir die Intensivstationen schneller entlasten. Grundsätzlich ist aber die dritte Impfung für alle wichtig. Die Impfstoffe wirken gegen das Deltavirus etwas weniger. Zudem lässt der Infektionsschutz mit der Zeit etwas nach. Deshalb müssen sich alle auffrischen.

Ließe sich mit Boostern ein Lockdown vermeiden?

Ich weiß nicht, ob wir schnell genug sind. Aber es erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass wir ihn vermeiden.

Wie schnell müssten wir denn sein?

Wir müssen umgehend die Impfkapazitäten erhöhen auf die Werte, die wir zuletzt im Juni hatten. Wir brauchen Impfzentren, mobile Teams aber auch die konkrete Aufforderung an die Menschen, dass sie sich impfen lassen. Das bringt im Moment nur nichts, weil die Kapazitäten dafür nicht vorhanden sind.

Argumente der Ungeimpften und Impfskeptiker

Viele Ungeimpfte argumentieren, ihnen seien hundert Gleichgesinnte lieber als zehn leichtsinnige Geimpfte. Ist das so?

Ich will nicht gegen die Vorsicht argumentieren; wir brauchen sie auf alle Fälle. Das Problem ist, dass diese Vorsicht 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche durchgehalten werden müsste. Und das ist unrealistisch. Geimpfte haben bereits einen gewissen Schutz. Sie können ihre Vorsicht also auf Situationen fokussieren, wo dies nötig ist.

Ich verstehe Sie richtig, dass auch Geimpfte sich in speziellen Situationen testen und Masken tragen sollten?

Absolut. Gerade, wenn sie Kontakt zu Covid-Fällen hatten, wenn sie selbst Symptome haben, wenn sie auf eine große Party gehen, bei der Kontakte sehr wahrscheinlich sind, oder bei vergleichbaren Veranstaltungen, da ist das definitiv sinnvoll.

Den Hinweis, Geimpfte können das Virus übertragen, interpretieren viele so, dass Geimpfte grundsätzlich ansteckend sind. Wie ist das aus medizinischer Sicht?

Geimpfte sind natürlich die allermeiste Zeit nicht infiziert. Und damit auch nicht ansteckend. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Geimpfter infiziert, ist um den Faktor drei niedriger als bei einem Ungeimpften, wenn die Impfung länger zurückliegt.

Ist nicht auch dann das Ansteckungsrisiko durch den Impfstoff reduziert?

Das Übertragungsrisiko ist nochmal etwas niedriger als bei einem infizierten Nicht-Geimpften, das stimmt.

Impfskeptiker sehen sich bestätigt, wenn der Impfschutz nach fünf Monaten von 90 auf 50 Prozent abgesunken ist.

Wir müssen unterscheiden zwischen dem Schutz vor einer schweren Erkrankung und dem vor einer Infektion. Der vor der schweren Erkrankung liegt auch nach sechs Monaten bei 90 Prozent. Der gegen eine Infektion sinkt, liegt aber auch noch bei 66 Prozent. Das zeigt, wie sinnvoll Impfen ist.

Corona bei Kindern

Warum sind die Infektionszahlen bei den Kindern so hoch? Sie werden in den Schulen ständig getestet, tragen am Platz eine Maske. Wo stecken sie sich an?

Das Testen schützt nicht vor der Infektion; es hilft nur, sie frühzeitig zu entdecken. Ein Faktor ist, wie konsequent werden das Testen und das Maskentragen umgesetzt. Die Kinder sind nicht nur in der Schule zusammen. Und außerhalb der Schule ist die Maske häufig nicht dabei. Dort stecken sie sich gegenseitig an. Hinzu kommt, dass die Mehrheit nicht geimpft ist. Das alles zusammen führt zu diesen Werten.

Kinder tragen Maske am Platz in der Schule, Erwachsene bei der Arbeit nicht. Halten Sie das für vernünftig?

Nein. Wir könnten die Übertragungsraten dramatisch reduzieren, wenn alle, die am Arbeitsplatz in Kontakt mit anderen kommen, eine einfache medizinische Maske tragen. Sie belastet kaum. Und es wäre damit mehr gewonnen als mit FFP2-Masken, die viele auf halb acht tragen.

Viele Eltern glauben, dass Kinder das Virus nicht übertragen. Das ist falsch. Kinder sind infektiös, wenn sie sich infiziert haben, etwas weniger als Erwachsene, aber dennoch. Das trifft gerade auf die Deltavariante des Virus zu, eindeutig.

Geht von ihnen eine gewisse Gefahr aus?

Ja, weil die Gefahr besteht, dass sie auch ihre Eltern und Großeltern infizieren können.

Wie richtig ist es, dass sie im Moment vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind?

Das sind politische Abwägungen. Die Politik muss entscheiden, welche Gruppen sie wie behandelt. Dazu kann ich als Virologe nicht viel sagen.

Wenn Sie es rein medizinisch betrachten sollen?

Ich sage es anders: Wenn ich zu einer Veranstaltung Geimpfte und Getestete zulasse, reduziere ich das Risiko zunächst um den Faktor vier. Wenn ich aber nur Geimpfte zulasse, sind zwangsläufig alle geimpft. Das ist ein erheblicher zusätzlicher Schutz, weil die nur Getesteten weiter infizierbar sind.

2G-Plus und Freedom Day

Die Politik diskutiert jetzt über 2G-Plus. Ist das sinnvoll?

Geimpfte können sich infizieren und sind dann auch infektiös. Insofern ist das bei bestimmten Veranstaltungen sinnvoll. Aber generell ist das vom Aufwand und von der Logistik her kaum zu stemmen. Das gilt analog besonders für das Gedankenspiel mit 1G-Plus.

Manche vertreten die Linie, dass wir uns ohnehin alle in absehbarer Zeit mit Corona infizieren werden und der Aufwand deshalb unnötig sei. Was halten Sie entgegen?

Die Intensivstationen sind schon jetzt überlastet. Wenn wir das jetzt laufen lassen würden, käme es zu einem Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems. Dann wäre der Schaden noch sehr viel größer als der, den das Virus verursacht. Deshalb müssen wir über den Winter und den Frühling hinweg dafür sorgen, dass das System weiter funktioniert.

Immer wieder fordern Politiker einen Freedom Day. Der nächste soll am 20. März kommen. Ist das realistisch?

Ich finde diese Gedankenspiele verständlich aber fehl am Platz. Die Diskussion, die wir Anfang Oktober hatten, hat doch viel zum sorglosen Umgang der Menschen mit der Pandemie beigetragen und dazu, dass sie auch relativ einfache Maßnahmen nicht mehr umgesetzt haben. Aber schon wegen der Infektionszahlen, die wir im März wohl haben werden, ist das nicht realistisch.

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