Auf diesem fränkischen Acker liegt der Mittelpunkt Europas

2.2.2020, 15:19 Uhr
Ein Weg führt zu einer rund gepflasterten Stelle auf einem Feld nahe des Ortsteiles Gadheim. Die Anlage markiert den neuen geografischen Mittelpunkt der Europäischen Union nach dem Austritt von Großbritannien aus der EU.

© Fotos: Karl-Josef Hildenbrand/dpa Ein Weg führt zu einer rund gepflasterten Stelle auf einem Feld nahe des Ortsteiles Gadheim. Die Anlage markiert den neuen geografischen Mittelpunkt der Europäischen Union nach dem Austritt von Großbritannien aus der EU.

Ein tiefer Seufzer am anderen Ende der Leitung, als sich der Anrufer als Journalist outet. "Rufen Sie auch wegen diesem blöden Brexit an?", will die Mitarbeiterin im Veitshöchheimer Rathaus wissen, stellt einen dann aber doch zum Bürgermeister durch. Unmittelbar vor Großbritanniens Austritt aus der EU häufen sich wieder die Medienanfragen bei Rathauschef Jürgen Götz (CSU). Dabei hätte der in diesen Tagen genug anderes zu tun.

Zum Beispiel die Vorbereitungen für die Livesendung "Fastnacht in Franken", die am 14. Februar erneut aus den örtlichen Mainfrankensälen übertragen wird. "Aber das ist ja eine eingespielte Geschichte", sagt Götz. Die Tatsache, dass ein Feld neben dem Veitshöchheimer Ortsteil Gadheim nach dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) der neue geografische Mittelpunkt des Staatenbündnisses sein wird, ist dagegen ein völlig neues Alleinstellungsmerkmal.

Jürgen Götz als überzeugter Europäer hätte auf diese neue Attraktion gerne verzichtet: "Die Verschiebungen dieses Mittelpunkts waren bisher immer mit der Tatsache verbunden, dass neue Staaten zur EU dazu gekommen sind. Jetzt wird zum ersten Mal eine Nation austreten", gibt Veitshöchheims Bürgermeister zu bedenken.

Ende März 2017 hatte er von der unverhofften Ehre für seine Gemeinde erfahren. Ein Würzburger Lokalradiosender hatte damals vermeldet, dass im Fall des Brexits der EU-Mittelpunkt auf 9°54‘07‘‘ östlicher Länge und 49°50‘35‘‘ nördlicher Breite, also auf einem Acker bei Gadheim, liegen wird. Götz hatte zunächst an einen vorgezogenen Aprilscherz geglaubt. Doch dann meldeten auch andere Medien, dass die Experten des franzöischen Institut Géographique National (IGN) diesen Punkt berechnet hatten.

"Oh, das ist ja bei meinem Nachbarn auf dem Acker"

Karin Keßler war damals in einer Bäckerei im Nachbarort auf Gadheims künftigen Anziehungspunkt angesprochen worden und hatte zunächst ebenfalls an einen Gag gedacht. "Mein Sohn hat sich dann die Koordinaten besorgt und mir per WhatsApp ein Bild mit einem Punkt drauf geschickt", erzählt die Landwirtin. Hier komme der künftige EU-Mittelpunkt hin, habe ihr Sohn dazu geschrieben. "Und ich schau‘ es mir an und sage: ,Oh, das ist ja bei meinem Nachbarn auf dem Acker‘. Kam die Nachricht zurück von meinem Sohn: ,Nein. Das ist auf deinem Acker‘".

Inzwischen hat Keßler das betreffende Flurstück an die Gemeinde verpachtet, und mit möglichst viel Eigenleistung haben die Gadheimer dort ein bisschen Fläche gepflastert und drei Fahnenmasten, eine Sitzecke sowie einen Findling aus Muschelkalk aufgestellt. Aus diesem Felsen ragt nun ein rot-weiß gestreifter Mast und markiert den exakten Mittelpunkt.

Lange wartete Veitshöchheims Gemeindeverwaltung damit, die Flaggen für die Masten zu bestellen. Weil die Briten einfach nicht zu Potte kamen mit ihrem Austritt, wollten sich auch die Menschen am neuen EU- Mittelpunkt nicht so recht festlegen. "Es machte keinen Sinn zu planen, so lange in London noch nichts Offizielles feststand", erklärt Jürgen Götz. Bei jedem vermeintlichen Durchbruch in der Brexit-Frage musste er allerdings wieder Fragen von zahlreichen Medienvertretern aus dem In- und Ausland beantworten.

Selbst in China ein Thema

Walter Dieck erging es ähnlich. "Selbst in China oder Japan waren wir auf einmal ein Thema", erzählt der Ortssprecher von Gadheim und erinnert sich unter anderem an eine Reporterin des britischen Guardian, die in dem unterfränkischen 80-Seelen-Ort recherchierte.

Ähnlich wie Bürgermeister Götz sieht Dieck die neue Sehenswürdigkeit "mit einem lachenden und einem weinenden Auge". "Eigentlich gibt es nur Verlierer in dieser Sache. Der einzige Gewinner des Brexits ist Gadheim", bilanziert der Ortssprecher, der die bisweilen an einen Sketch von Monty Python erinnernden Debatten im britischen Unterhaus und die immer neuen Wendungen im Brexit-Drama meist ein wenig fassungslos, manchmal aber auch amüsiert verfolgte.

In britischem Humor übte sich denn auch Gruppe von Gadheimer Bürgern, die kurz nach dem Bekanntwerden des künftigen EU-Mittelpunkts einen Videoclip drehte und sich darin stolz als Nabel Europas präsentierte. Von der inhaltlichen Stoßrichtung und von der Wortwahl her orientierten sich Initiatorin Gunila Weidner und ihre Mitstreiter bei ihrem Internet-Ulk an den Satire-Videos, die nach Donald Trumps Antrittsrede dessen "America first"-Attitüde auf die Schippe nehmen.

Und so schwärmen die Protagonisten in dem an die "liebe Frau Premierminister" (damals war noch Theresa May am Ruder) adressierten Clip unter anderem von dem vielen Platz ("übrigens mehr Platz als in Monaco") im "großartigen" neuen Zentrum der EU. Diesen Platz brauche man aber auch dringend für die vielen internationalen Großbanken, die nach dem Brexit aus London wegziehen, erklärt die Stimme aus dem Off und preist anschließend die "riesigen grünen, roten und blauen Traktoren" in Gadheim und die einzige Verkehrsampel des Ortes.

"Eine wirklich schöne Ampel. Ihr solltet kommen und sie euch ansehen", witzelt Gunila Weidner in dem Video, das sie auch als eine Art Ventil für all die Absurditäten in der Weltpolitik nutzte. Jeden Tag, wenn sie Nachrichten sehe, höre oder lese, denke sie sich, dass das doch alles nicht wahr sein könne, erzählt die aus Hessen stammende Rechtsanwältin, die der Liebe wegen nach Gadheim zog und den kleinen Ort schnell ins Herz schloss.

Auch ein warnendes Symbol

"Die Dorfgemeinschaft hält wirklich zusammen", sagt Weidner und berichtet von monatlichen Stammtischen und dem gemeinsamen Aufstellen des Maibaums. Sie sieht Gadheim in gewisser Weise als kleinen Kontrapunkt zum innerlich zerrissenen Großbritannien.

Und Bürgermeister Götz versteht den neuen Mittelpunkt der EU auch als warnendes Symbol dafür, dass die Fliehkräfte in dem Staatenbündnis überhandnehmen könnten. Nichtsdestoweniger will Veitshöchheim aus seiner neuen Attraktion touristisches Kapital schlagen und ähnlich wie für den zur Sommerresidenz der Würzburger Fürstbischöfe gehörenden Rokokogarten die Werbetrommel rühren. "Aber es wird ja sowieso nur ein Titel auf Zeit sein", sagt der Kommunalpolitiker angesichts von EU-Beitrittskandidaten wie Serbien oder Montenegro.

In der Nacht zum 1. Feburar wird in Gadheim auch nur in kleinem Rahmen gefeiert werden. Irgendwann im Frühjahr will Ministerpräsident Markus Söder (CSU) zu einem offiziellen Festakt kommen, doch für morgen reichen ein bisschen Musik und ein paar Flaschen Sekt und Orangensaft zum Anstoßen. Um 0 Uhr sollen dann eine neue Europa-, eine neue Bundes- und eine neue Ortsflagge am neuen geografischen Mittelpunkt der Europäischen Union aufgezogen werden. Die seit einigen Monaten dort hängenden Exemplare seien nämlich schon ziemlich verschlissen, verrät Jürgen Götz.

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