Kommentar: Mehr Toleranz in der Debatten-Kultur, bitte!

22.10.2019, 10:55 Uhr

Im Mai feierten wir den 70. Geburtstag des Grundgesetzes, voller Lob auf die beste Verfassung, die das Land je hatte. Dabei gibt es eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Und man muss sich Sorgen machen über Artikel 5. Seine Kernsätze: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten . . . Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre . . . Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei."

Wir erleben mehrere Fehlentwicklungen. Zum einen die Überdehnung des Begriffs "Meinungsfreiheit", wie sie kürzlich das Landgericht Berlin in seinem skandalösen Urteil in Sachen Renate Künast vollzog. Die unflätigen Beschimpfungen der Grünen-Politikerin im Netz verletzen ihre persönliche Ehre. Würde dieses Urteil Schule machen, wäre jeder Kampf gegen den Unrat im Netz aussichtslos. Der Spruch bedarf der Korrektur, um des Zusammenlebens im Lande willen. Hier wurden Grenzen der Toleranz überschritten.

Toleranz gegenüber Andersdenkenden fehlt

In anderen Fällen fehlt es in diesem Land vielen Gruppen zusehends an jeglicher Toleranz gegenüber Andersdenkenden aus dem breiten demokratischen Spektrum. In Hamburg wurde kürzlich der AfD-Mitbegründer Bernd Lucke an der Uni niedergebrüllt, als er dort eine Vorlesung halten wollte. Die Uni-Leitung verteidigte das Recht auf die Freiheit der Lehre eher widerwillig – ein Skandal. Lucke ist kein "Nazischwein", als der er beschimpft wurde. Die Entwicklung der AfD zur rechtsextremen Partei setzte unter ihm ein, er bremste vergeblich und zog mit seinem Austritt die Konsequenz. Man muss die Ansichten des Ökonomen Lucke nicht teilen. Sie sind aber weder verfassungsfeindlich noch rechts- oder linksextrem. Also muss man sich mit ihm auseinandersetzen statt ihn niederzubrüllen.

Zum Streit nicht bereit

Die Klima-Aktivisten von Extinction Rebellion haben ehrenwerte Ziele: endlich echte Klimapolitik. Die Methoden, mit denen sie agieren, sind genau zu beobachten. Die Absolutheit, mit der etliche Klimaschützer ihre Positionen vertreten, muss aber befremden. Da sind manche zum Diskurs nicht mehr bereit. Demokratie lebt aber vom Argument, vom Streit um richtige Politik.

Noch ein Beispiel: Man muss den Kabarettisten Dieter Nuhr nicht lustig finden. Wenn aber im Netz eine Art Berufsverbot für ihn gefordert wird, weil er mehr oder eher weniger gelungene Witze über Greta Thunberg macht – dann wird eine Grenze überschritten; dann begeben sich die Empörten von links auf das Niveau jener konservativen Empörten, die in Bayern einst die Ausstrahlung des "Scheibenwischer" (eine sehr kritische Kabarettsendung, für die Jüngeren) unterbanden. Mehr Gelassenheit, mehr Streitkultur täten dem Land sehr gut.

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