Von der Leyen im Interview: "Ich kann den Frust der Menschen verstehen"

24.2.2021, 06:00 Uhr
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist davon überzeugt, dass der europäische Weg in der Corona-Pandemie der richtige war. "Sonst wären viele Länder leer ausgegangen", sagt sie.

© Foto: John Thys, afp EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist davon überzeugt, dass der europäische Weg in der Corona-Pandemie der richtige war. "Sonst wären viele Länder leer ausgegangen", sagt sie.

Die Impfungen sind schleppend und auch nicht so wie versprochen angelaufen. Können Sie verstehen, dass die Menschen verärgert sind?

Ursula von der Leyen: Ja, ich kann die Frustration der Menschen und auch derjenigen, die in den Impfzentren arbeiten, gut nachvollziehen. Es sind zwei Dinge zusammengekommen: Wir haben schneller wirksame Impfstoffe gefunden, als es zu erwarten war. Das ist eine großartige Leistung der Wissenschaft. Aber wir wussten nicht, dass das Hochfahren der Massenproduktion und das Überwinden von Anfangsproblemen so schwierig sein würde.

Die CSU hat am Montag eine "Liste des Versagens" in Umlauf gebracht, in der gleich reihenweise die Versäumnisse der EU-Kommission angeprangert werden. Ärgert Sie das?

Von der Leyen: Kritik gehört dazu. Aber ich mag mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn heute nur zwei oder drei Länder Zugang zu Impfstoffen hätten, und der Rest der Europäischen Union leer ausgegangen wäre. Das hätte unsere Gemeinschaft zerrissen. Hinzu kommt: Eine solche Entwicklung wäre Gift für den Binnenmarkt gewesen. Denn unsere Wirtschaft ist miteinander verflochten und nur deshalb so stark, weil wir enge Beziehungen zu unseren Nachbarn haben. Insofern bleibt der europäische Weg trotz aller Hindernisse die richtige Entscheidung.

Die gemeinsame Einkaufsstrategie war richtig?

Von der Leyen: Ja, dank des europäischen Ansatzes haben wir heute ein breites Angebot an Impfstoffen, die wir auch gegen die Mutationen nutzen können. Wir haben auf sechs Hersteller gesetzt, drei davon sind inzwischen zugelassen und weltweit nachgefragt, zwei befinden sich kurz vor der Zulassung. Unsere Strategie ist aufgegangen. Wir haben auf die richtigen Pferde gesetzt. Bisher wurden 41 Millionen Dosen ausgeliefert und es kommen absehbar deutlich größere Mengen.

Die Kommission hat als Vorgabe für die Mitgliedstaaten ausgegeben, dass bis zum Sommer 70 Prozent der erwachsenen EU-Bürger geimpft sein sollen. Dieses Ziel geben Sie noch nicht verloren?

Von der Leyen: Ich bin da zuversichtlich. Aber eine Bilanz können wir erst am Ende des Sommers ziehen. Das ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf.


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Die EU war zu langsam. Was können Sie denn jetzt tun, um die Herstellung, die Zulassung und dann die Bereitstellung der Vakzine zu beschleunigen?

Von der Leyen: In 130 Ländern der Welt wurde noch niemand geimpft. Europa gehört zu den ersten, wenn auch mit weniger Dosen in der Startphase als erwartet. Wir sind mit den Herstellern der Impfstoffe ständig im Gespräch und gehen die Punkte durch. Was wird gebraucht, um die Produktion auszubauen? Wo gibt es Ansatzpunkte, um die weltweiten Zulieferketten zu stärken und knappe Rohstoffe in ausreichender Menge zu besorgen? Wie können Daten aus der Unternehmensforschung direkt an die Europäische Arzneimittel-Agentur fließen, damit die Zulassung schneller kommen kann ohne Abstriche bei der Sicherheit? Dieses Vorgehen ist nicht nur jetzt nötig, um mehr Vakzine verimpfen zu können. Wir wollen dadurch auch sicherstellen, dass wir schneller reagieren können, wenn neue Varianten auftauchen und wir angepasste Impfstoffe brauchen.

Die Angst vor den Mutanten ist groß?

Von der Leyen: Die neuen Varianten sind sehr ernst zu nehmen. Gut ist, dass die zugelassenen Impfstoffe größtenteils wirken. Aber wir alle sind immer noch dabei, das Virus besser kennenzulernen. Nur wenn in allen Staaten die Sequenzierung, also eine Analyse der positiven Proben stattfindet, können wir schnell feststellen, wann und wo sich neue Varianten bilden. Zugleich laufen bereits die Vorbereitungen mit den Pharma-Firmen, damit wir bereits beim Auftreten einer gefährlicheren Variante die Impfstoffe anpassen. Dazu investieren wir massiv in die Forschung und einen schnelleren Datenfluss. Und zum dritten arbeiten wir an einem Netz an Produktionsstätten, die in der Lage wären, einen verbesserten Impfstoff rasch zu produzieren. Das zeigt, wie wichtig es ist, alle Kräfte zu bündeln. Dies schafft kein Land allein.

Wir haben zwar drei zugelassene Impfstoffe, aber der von Astrazeneca bleibt nicht nur in Deutschland liegen. Wurde das Vakzin im Streit mit dem Hersteller regelrecht kaputtgeredet?

Von der Leyen: Ich würde mich mit dem Vakzin von Astrazeneca genauso bedenkenlos impfen lassen wie mit den Produkten von Biontech/Pfizer oder Moderna. Als wir vor zehn Monaten anfingen, aus den Hunderten von Kandidaten die vielversprechenden herauszusuchen, gingen wir von einer Wirksamkeit zwischen 50 und 70 Prozent aus. Nun liegen alle darüber. Das Vakzin wurde sorgfältig geprüft, für sicher und wirksam befunden und zugelassen.

Ihre Zusammenarbeit mit den Firmen war ja nicht störungsfrei. Das eine Unternehmen begann Umbauarbeiten, ohne etwas zu sagen. Ein anderer Konzern kürzte an einem Freitagabend das EU-Kontingent der Impfdosen um die Hälfte. Waren Sie sauer?

Von der Leyen: Die Impfstoffhersteller sind in dieser Pandemie unsere Partner. Und auch sie standen noch nie vor solch einer Herausforderung. Es gibt ständig irgendwelche neue Fragen, die wir meistens gütlich klären.


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Trotzdem gibt es Kritik aus dem Europäischen Parlament, der Markt habe nicht funktioniert und jetzt sei ein starker Staat nötig – beispielsweise mit Zwangslizenzen. Was halten Sie davon?

Von der Leyen: Da bin ich sehr zurückhaltend. Die Herstellung von Vakzinen ist ein sehr komplizierter Prozess, für den nicht nur 400 verschiedene Komponenten von etwa 100 Firmen gebraucht werden, sondern auch hochspezialisiertes Personal. Um eine geeignete Produktionsanlage aufbauen zu können, sind normalerweise Jahre nötig. Deshalb halte ich es aktuell für besser, mit den Firmen zusammenzuarbeiten und darauf hinzuwirken, mit ihnen die weltweite Produktion zu verbessern. Denn wenn tatsächlich ein Vakzin an eine Variante angepasst werden muss, liegt das meiste Vorwissen dafür bei den Unternehmen.

Der Impfstoff von Johnson&Johnson soll zwar bald zugelassen werden, er wird aber nach der Herstellung in der EU in den USA abgefüllt. Was tun Sie, wenn wir die Ampullen von dort nicht mehr zurückbekommen?

Von der Leyen: Das Unternehmen hat uns versichert, dass es keine Probleme geben wird. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass unsere amerikanischen Freunde die Auslieferung eines in Europa produzierten Impfstoffes an uns blockieren würden.


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In anderen Ländern werden Menschen in Möbelhäusern und Apotheken oder beim Hausarzt geimpft. In Großbritannien verzögert man die zweite Impfung. Was kann Europa von anderen lernen?

Von der Leyen: Die USA hatten bereits einen etabliertes Krisennetzwerk, das gleich zu Beginn der Pandemie hochgefahren werden konnte. In dem Punkt waren sie weiter als wir. Deshalb baue ich jetzt mit der Wissenschaft und der Industrie nach diesem bewährten Modell den "Hera Inkubator" auf. Er soll uns bereits bei den Varianten eine schnellere Reaktion ermöglichen. Wir sind zwar dieses Mal mit nur zehn Monaten nicht schlecht gewesen, aber das muss künftig schneller gehen. Die zweite Impfung einfach hinauszuschieben, halte ich für riskant. Wir sollten uns an die Vorgaben halten, die die Hersteller ermittelt haben. Wir strecken deswegen die zweite Impfung nicht.

Wird im zweiten Quartal wie versprochen alles besser?

Von der Leyen: Die Lage wird sich spürbar bessern. Wir merken, dass zum Beispiel Biontech mehr Dosen ausliefert als zunächst angenommen, weil die Produktion schneller wird. Außerdem kommen die vielen Millionen Dosen aus dem zweiten Vertrag mit Biontech hinzu. Und Johnson&Johnson steigt ein.

Können Geimpfte schon bald wieder reisen und ihre Freiheiten zurückbekommen? Wann gibt es einen Impf-Pass?

Von der Leyen: Das Impfzertifikat bleibt der erste Schritt und ist schon aus medizinischer Sicht wichtig, weil wir Wirkungen und Nebenwirkungen beobachten müssen. Ob man daraus auch einen Impf-Pass machen kann, der wieder mehr Freiheit zurückgibt, diskutieren wir morgen auch mit den EU-Staats- und Regierungschefs. Denn das ist eine politische Frage.

Haben Sie auch eine gute Nachricht?

Von der Leyen: Verglichen mit den Aussichten vor einem Jahr sind wir weit. Wir haben mehrere Impfstoffe, die wirken. Wenn sich jetzt noch Daten israelischer Forscher bestätigen, dass Biontech-Geimpfte das Virus kaum mehr übertragen, wäre das ein weiterer Sprung nach vorn. Denn solange wir das Virus nicht überall beherrschen, wird es immer wieder neue Varianten geben, die dann um die Welt gehen und uns aufs Neue bedrohen.

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