Alle soziale Schichten betroffen

Angststörungen und Depressionen: So leiden Kinder unter der Pandemie

14.9.2021, 06:02 Uhr
Überforderung und das Gefühl nicht mehr dazuzugehören. Viele Kinder sind durch die Corona-Pandemie besonders betroffen und dadurch psychisch auffällig.

© imago images/Petra Schneider, NN Überforderung und das Gefühl nicht mehr dazuzugehören. Viele Kinder sind durch die Corona-Pandemie besonders betroffen und dadurch psychisch auffällig.

Eine bundesweite Studie hatte im Februar und damit ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie gezeigt, dass fast jedes dritte Kind unter psychischen Auffälligkeiten, Sorgen und Ängsten leidet. Auch depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden waren verstärkt zu beobachten, so die Ergebnisse.

Daran hat sich nicht viel verändert, sagt Gunther Moll. Die "psychischen Corona-Folgestörungen" sind für den Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Erlangen deutlich zu spüren.

In seiner Abteilung stehen 72 stationäre Plätze zur Verfügung, davon sind 34 Betten und 38 Tagesklinikplätze. Der zweite Stock im Stationsneubau steht leer. Der Innenausbau kostet zwei Millionen Euro und würde 16 zusätzliche Plätze bringen, doch die Uni-Klinik verfügt nicht über die finanziellen Mittel. Moll hofft darauf, dass der Freistaat einspringt. Auch, damit sich die Situation entspannt.

Bis zu sechs Monate Wartezeit

"Derzeit haben wir 100 Kinder auf der Warteliste", was für die Betroffenen mitunter fatal sei. "Die Wartezeiten gab es schon immer", sagt Moll. Waren es vor Corona maximal drei bis vier Monate, sind es jetzt bis zu sechs. Das System ist überlastet, mit fatalen Folgen. Die häufigsten Erkrankungen sind "Angststörungen, Depressionen, Einsamkeit. Das Gefühl, überfordert zu sein, nicht mehr dazu zu gehören", sagt Moll. Auch Magersucht, Zwangsstörungen und Spielsucht begegnen ihm und seinem Team immer häufiger.

Die Auffälligkeiten und Erkrankungen betreffen dabei Kinder und Jugendliche aus allen sozialen Schichten, so Moll. Können solche Störungen über Monate hinweg nicht behandelt werden, "schleifen sie sich ein und werden schlimmer." Wie sich die Situation entwickeln werde, bleibe abzuwarten, sagt er und befürchtet gleichzeitig, dass der Strom der jungen Patienten nicht abreißen, sondern weiter anschwellen wird.

Wie alle Menschen streben auch Kinder und vor allem Jugendliche "nach Freiheit. Aber lange Zeit war das Leben stark eingeschränkt. Kinder haben völlige Abhängigkeit erlebt und auch Regeln, die für sie nicht nachvollziehbar waren", so Moll. "Wir Menschen müssen alles lernen", was für einen Sport, ein Hobby genauso gilt wie für soziale Fähigkeiten. "Wie man sich aneinander annähert, das erste Händchenhalten oder Küssen, das war weg."

"Die Maßnahmen sind gut gemeint, aber nicht ausreichend"

Eineinhalb Jahre lang konnten durch die Pandemie und die Anti-Corona-Maßnahmen diese Fertigkeiten nicht vertieft werden, sagt Moll. Und diese Lücken in Seele und Psyche bleiben erst einmal bestehen. "Das ist nicht wie mit einem Motorrad, das man im Herbst unterstellt, im Frühjahr wieder herausholt, nur ein wenig putzt und dann fährt wie vorher." Wie groß die Defizite sind, werde sich mit dem Beginn der Schule zeigen.

Von Maßnahmen wie etwa dem Projekt "gemeinsam.Brücken.bauen", mit dem neben dem Aufholen von Lernstoff auch die soziale Kompetenz der Schülerinnen und Schüler gestärkt werden soll, hält Moll im Kern nicht viel. "Die Maßnahmen sind gut gemeint, aber nicht ausreichend", sagt er. Vor allem, weil in seinen Augen mit Blick auf die Schulen von Anfang an falsch reagiert wurde.

"Stellen Sie sich vor, wir stehen bei der Fußball-Weltmeisterschaft im Endspiel gegen Italien, liegen zum Ende der ersten Halbzeit fünf Tore zurück und haben schon zwei rote Karten kassiert. Da genügt es nicht, einfach nur zwei Spieler auszuwechseln und ansonsten einfach weiterzumachen, als stünde es unentschieden. Da muss die ganze Mannschaft umgestellt werden."

Abhängigkeit erzeugt

Genau das sei nicht passiert, es sei nicht entsprechend dem "Ausmaß der Katastrophe" gehandelt worden. Beispielsweise hätte mit dem breiten Einsatz von Lehramtsstudenten an den Schulen der Wechsel- und vor allem Distanzunterricht und damit der Wegfall der Schulen als sozialer Ort der Begegnung verhindert werden können, so Moll. "Wir haben so viele Schüler verloren, das hätte nicht sein müssen. Es wurde viel zu wenig nach dem Wohl der Kinder gefragt."

Auch mit Blick auf die schon vor der Pandemie bestehende Probleme mit dem Medienkonsum, die sich in vielen Familien mit Corona und der Dauerpräsenz von Tablet und Handy deutlich verschärft und oft Abhängigkeit erzeugt haben. "Das macht mir Angst", so Moll. Deshalb hätte er sich auch für das neue Schuljahr durchaus radikal klingende Veränderungen gewünscht, um für die Kinder und auch Lehrer Freiraum zu schaffen, damit der Blick auf die psychische und soziale Entwicklung gerichtet werden kann.

"Kernstoff um ein Drittel reduzieren, sofort bei zwei bis drei Fächern die Benotung rausnehmen, das müsste man jetzt sofort machen", sagt Moll und zieht noch einmal einen Vergleich zum WM-Endspiel "Wir liegen 0:5 zurück. Die zweite Halbzeit fängt jetzt an".