Bayreuther Mediziner fordert: Arzneimittel sollen in Europa produziert werden

29.3.2020, 11:13 Uhr
Auch in Apotheken könnten Arzneimittel knapp werden, wenn sich die Herstellung in Asien durch das Coronavirus verzögert.

© Philipp von Ditfurth Auch in Apotheken könnten Arzneimittel knapp werden, wenn sich die Herstellung in Asien durch das Coronavirus verzögert.

"Bereits zu Beginn des Jahres 2020 gab es erhebliche Versorgungsschwierigkeiten bei mehr als 300 Produkten", sagt Nagel. "Davon sind viele Bereiche betroffen, insbesondere Antibiotika, Antidepressiva oder generell nicht patentgeschützte Arzneimittel." Nagel leitet den Lehrstuhl für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bayreuth und ist außerdem Präsident des chinesisch-deutschen Freundschaftskrankenhauses in Wuhan. "Es gab schon vor der Corona-Krise eine Diskussion über die Frage, ob die Auslagerung der Produktion wichtiger Grundgüter nicht Gefahren mit sich bringt", sagt der Professor. "Was das heißt, wird in diesen Tagen deutlich."

Professor Eckhard Nagel von der Universität Bayreuth

Professor Eckhard Nagel von der Universität Bayreuth

Die Krise hat die Lage verschärft. Die Leute bunkern nicht nur Klopapier und Nudeln zu Hause, sondern legen auch Medikamenten-Vorräte an – aus Angst, nicht mehr versorgt zu sein. "Die Hersteller haben sich bei der Produktion von Arzneimitteln und deren Grundstoffen vollständig auf Zulieferer in Asien verlassen", sagt Nagel. "Das muss rückgängig gemacht werden." Die Herstellung in China oder Indien ist – wie in vielen anderen Sparten – billiger als in Europa. Es ist ein großes, weltweites Geschäft mit hohem Preisdruck.

Sondersitzung mit Ärzten und Apothekern

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn hat aus diesem Anlass am Mittwoch zu einer kurzfristigen Sondersitzung per Telefonkonferenz eingeladen, "zur Bewertung der aktuellen Versorgungslage im Kontext von Covid-19". Dabei ging es zunächst um einen Austausch mit Betroffenen, wie Großhandel, Kliniken, Apotheken und Krankenkassen. "Nach Auffassung aller Beteiligter ist die Arzneimittelversorgung in Deutschland in der Fläche grundsätzlich weiterhin als gut zu bewerten", schreibt das Institut in seiner anschließenden Mitteilung.



"Bei sich abzeichnenden Engpässen zu einzelnen Wirkstoffen wird übergreifend nach Lösungen gesucht, um die notwenige Versorgung sicherstellen zu können. Hier ist zum Beispiel die Gewährleistung der Versorgung mit Propofol zu nennen." Bei dem Narkosemittel hatte es zuletzt Lieferverzögerungen gegeben. Krankenhäuser könnten aber auf andere, ähnliche Wirkstoffe zugreifen.

Auch die Situation bei der Versorgung mit Desinfektionsmitteln sei weiterhin angespannt. Die Maßnahmen zeigten aber zunehmend Wirkung. Von einem Engpass spricht das Bundesinstitut erst, bei einer "über voraussichtlich zwei Wochen hinausgehenden Unterbrechung einer Auslieferung im üblichen Umfang oder einer deutlich vermehrten Nachfrage, der nicht angemessen nachgekommen werden kann".

Das kann passieren, wenn plötzlich alle gleichzeitig mehr Desinfektionsmittel kaufen als sonst. Außerdem ist es schwierig, wenn ein Medikament vor allem in einer Region hergestellt wird, die gerade selbst von Sars-CoV-2 betroffen ist. Und der Handel von den Grundsubstanzen über die zusammengesetzten Wirkstoffe bis zu den fertigen Arzneimitteln kann stocken.

"Deshalb ist es dringend geboten, zu einer umfassenden Selbstversorgung in Europa zurückzukommen", sagt Eckhard Nagel. "Auch bei medizinischen Sachgütern wie Schutzmasken muss es in Zukunft wieder eine Grundversorgung im europäischen Raum geben." Dadurch wären deutsche Patienten weniger vom Weltmarkt abhängig.

Das deutsche Gesundheitssystem ist robust

Das Gesundheitssystem hierzulande schätzt der Professor als stark genug ein, um der Krise zu begegnen. "Die Krankenhausinfrastruktur in Deutschland ist robust und aktuell nicht überfordert", sagt Nagel. Trotzdem sind Einschätzungen schwierig, weil sich die Lage immer wieder ändert. "Viele der Annahmen, die ich im Januar oder Februar dieses Jahres, immer aufgrund der neusten Erkenntnissituation, hatte, haben sich als trügerisch erwiesen", sagt er.


Trotz Corona: Eine Hamburger Klinik will Kurzarbeit


"Es zeigt sich, dass die Entwicklungen und Gesetzmäßigkeiten dieser Infektion nur Stück für Stück erlernt werden können und dementsprechend Entscheidungen immer wieder neu justiert werden müssen." Die Krise könne den Zusammenhalt der Menschen stärken. "Wichtig ist dabei, dass die Verbreitung der Solidarität unter den Menschen schneller sein muss, als die Verbreitung des Virus."

Auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte appelliert an die Solidarität: Ärzte und Apotheken sollen Arzneimittel nur nach tatsächlichem Bedarf abgeben und selbst keine eigenen Vorräte anlegen.

Verwandte Themen


6 Kommentare