Zwei Weltkriege erlebt

Mit Oberbürgermeister und Kirschtorte: Nürnbergerin feierte ihren 108. Geburtstag

12.11.2021, 06:00 Uhr
Anna-Helena Schaller, die jetzt im Seniorenheim am Zeltnerschloss lebt, begrüßt zu ihrem 108. Geburtstag einen prominenten Gratulanten: Oberbürgermeister Marcus König ist gekommen. 

© Stefan Hippel Anna-Helena Schaller, die jetzt im Seniorenheim am Zeltnerschloss lebt, begrüßt zu ihrem 108. Geburtstag einen prominenten Gratulanten: Oberbürgermeister Marcus König ist gekommen. 

Freitag, 7. November 1913: In dem idyllischen kleinen Weinort Impfingen in Baden-Württemberg, heute ein Stadtteil Tauberbischofsheims, erblickt ein kleines Mädchen im Tierkreiszeichen Skorpion das Leben. Auf den Namen "Helena" getauft wird das Neugeborene der Familie Karges in der mit wertvollen, aus dem Mittelalter stammenden, nach wie vor kunstgeschichtlich interessanten Fresken und Bildstöcken ausgestatteten Pfarrkirche St. Nikolaus.

Prägende Ästhetik

Und es ist vermutlich diese Kirche, die prägend für Helenas Sinn für Ästhetik und ihre Religiosität ist. "Eine schöne Tischdecke und Blumen, das muss sein", sagt sie. Dementsprechend ist der liebevoll dekorierte Tisch zur Feier ihres 108. Geburtstags genau nach ihrem Geschmack.

Helena, verheiratete Schaller, ist mit 108 Jahren Nürnbergs älteste Bürgerin. Weil sich Oberbürgermeister Marcus König als Gratulant angekündigt hat, geht es für das Geburtstagskind vorab zum Friseur, damit die Frisur auch wirklich perfekt sitzt. Tut sie dann auch. Überhaupt sieht die Jubilarin mit ihrem silberglänzenden Haar blendend aus. 1950 zog Helena Schaller mit ihrem Mann, einem Bahnbediensteten, und dessen beiden Kindern in der Gartenstadt ein. Ihr Mann starb vor 45 Jahren. Sie selbst wohnte bis 2019 dort und blieb Mitglied der Baugenossenschaft Gartenstadt.

Geschmackvolle Wohnung

Als er der Genossin zu ihren 105. Geburtstag gratulierte, sei er beeindruckt gewesen von deren geschmackvoll eingerichteter und gepflegter Wohnung, erinnert sich Vorstand, Johannes Soellner. "Die Bewunderung darüber war damals auch das beherrschende Thema unseres Gespräches." Die angeregte Unterhaltung zwischen dem Geburtstagskind und OB König wiederum drehte sich großenteils um die Gartenstadt.

Helena Schaller pflegte bis zu ihrem Umzug ins Seniorenheim häufig im Gesellschaftshaus zu essen und zwar mit Vorliebe Suppen aller Art. Sie drehte ausgiebig ihre Runden – zur Sicherheit mit dem Rollator. Und sie besuchte regelmäßig den Gottesdienst in der Kirche St. Franziskus.

Helena Schaller musste nicht nur bereits vor 45 Jahren ihren Mann begraben, sie verlor auch nach und nach ihre drei Geschwister – vor 40 Jahren ihren Bruder August und 20 Jahre später Ludwig und Schwester Hedwig. Geblieben ist deren Tochter, die bereits ebenfalls betagt, in Baden-Württemberg lebt. Ob der am 23. Oktober 1897 geborene und seit 1914 vermisste Alois Karges, dessen Name sich auf dem Gefallenendenkmal des Ersten Weltkrieges in Impfingen findet, ein Verwandter oder gar Schallers Vater ist, weiß man nicht.

Schleier des Vergessens

Über Schallers Kindheit und Jugend liegt der Schleier des Vergessens. Ob sie behütet aufgewachsen ist oder Elend erleben und Hunger leiden musste, bleibt im Ungewissen. Bestimmte Erinnerungen ausblenden zu können, ist womöglich eines der Geheimnisse ihres langen Lebens und ihrer stabilen Gesundheit.

Es war eine unruhige Zeit, in die die inzwischen 108-Jährige hineingeboren wurde. Sie erlebte zwei Weltkriege und die kargen Nachkriegszeiten. Am 1. August 1914, da war die kleine Helena noch kein Jahr alt, stimmte das Königreich Württemberg, wie die anderen Bundesstaaten im Bundesrat, der Ermächtigung des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg zu, Frankreich und Russland den Krieg zu erklären. Dieses obwohl König Wilhelm und die Bürgerschaft wenig kriegsbegeistert waren. Bis 1918 gab es, wie Alfred Dehlings "Württembergs Staatswesen" zu entnehmen ist, 508.482 württembergische Kriegsteilnehmer. Das entsprach einem Fünftel der Bewohner; 71.671 Soldaten fielen.

Der Zweiten Weltkrieg forderte ebenfalls einen hohen Blutzoll. Tauberbischofsheim entging den Kampfhandlungen zum Kriegsende nur deshalb, weil die Stadt vor den Alliierten kapitulierte, ehe eine SS-Einheit eintraf, um dagegen Widerstand zu leisten.

1950, als die Familie Schaller in die Gartenstadt zog, lag Nürnberg noch weitgehend in Trümmern: Sicher kein leichter Start für Helena, zumal sie auch die Herzen zweier von den Kriegsgeschehen traumatisierter Kinder zu gewinnen hatte, die noch dazu ihre leibliche Mutter verloren hatten. Glücklicherweise sind auch diese Zeiten tief im Gedächtnis der Jubilarin vergraben.

Es lebe der Augenblick

Für sie zählt: Lebe den Augenblick. Und das tut sie. Bei ihrer Geburtstagsfeier beispielsweise verzehrt sie mit sichtlichem Genuss ein Stück der reichverzierten Schwarzwälder Kirschtorte. Als gläubige Katholikin ist das Gebet wichtiger Teil ihres Alltages. Über Religion hätte sie trefflich streiten können mit dem ebenfalls am 7. November 1913 geborenen französische Schriftsteller Albert Camus. Der Winzersohn, der, wie er verlauten ließ, nicht an Gott glaubte, aber auch nicht dem institutionalisierten Atheismus verpflichtet war, ist allerdings bereits 1960 tödlich verunglückt.