20 Jahre nach NSU-Mord an seinem Vater: Abdul-Kerim Simsek im Interview

9.9.2020, 10:42 Uhr
Vergangenen Samstag legte Abdul-Kerim Blumen am Tatort nieder.

© Stefan Hippel Vergangenen Samstag legte Abdul-Kerim Blumen am Tatort nieder.

Der Blumenhändler war das erste von zehn Mordopfern der Rechtsterroristen. 20 Jahre später steht sein Sohn Abdul-Kerim bewegt am Tatort: Am vergangenen Wochenende hat er auf einer Kundgebung des Bündnisses Nazistopp eine Rede gehalten. Genau auf jenem Parkplatz, auf dem seine Familie noch immer einen Blumenstand betreibt. Heute reist er zur offiziellen Gedenkfeier der Stadt Nürnberg erneut an.

Herr Simsek, wie geht es Ihnen hier in Nürnberg?

Abdul-Kerim Simsek: Es ist alles sehr emotional. Zu wissen, dass mein Vater auf diesem Parkplatz stundenlang mit mehreren Schüssen schwer verletzt in seinem Transporter lag, das schmerzt schon sehr.

Ihre Familie lebte damals in Schlüchtern in Hessen, als Ihr Vater nach Franken zu seinem Verkaufsstand fuhr. Sie waren mit Ihrer ein Jahr älteren Schwester Semiya in einem Internat in Saarbrücken, als die Schüsse fielen. Wie haben Sie die Zeit vor 20 Jahren in Erinnerung?

Simsek: Ich musste am anderen Tag ganz früh aufstehen und mit meiner Mutter und meiner Schwester mit der Bahn hierher kommen. In Nürnberg sind wird dann ins Krankenhaus gefahren. Bis dahin hat mir keiner genau gesagt, was passiert ist. Im Krankenhaus habe ich meinen Vater gesehen mit den vielen Schussverletzungen im Gesicht.

Was haben Ihnen die Polizisten über die Tat gesagt?

Simsek: Sie haben mir am Anfang erzählt, dass es nur eine kleine Schlägerei unter ein paar Leuten gegeben habe, weil ich ja noch klein war. Als ich aber meinen Vater gesehen habe, war es mir klar, dass es quasi eine Hinrichtung gewesen war.

Zwei Tage später ist Ihr Vater im Klinikum gestorben. Danach kam die Polizei ins Elternhaus, ihre Familie folgte bereitwillig den Anweisungen der Ermittler. Was geschah dann?

Simsek: Schon ein paar Tage später wurde plötzlich gegen unsere Familie ermittelt. Über viele Jahre wurden wir verdächtigt, es hieß, dass mein Vater ein Drogendealer sei ...

... ein Polizist sagte laut Vernehmungsprotokoll, Enver Simsek habe "Streckmittel für Heroin von Holland nach Deutschland gebracht ...

Simsek: Ja, und es hieß, dass es eventuell Familienstreitigkeiten gegeben haben könnte. Wir waren noch klein und haben alles gemacht, was die Polizei von uns wollte. Es war so grausam: Die haben meiner Mutter ein Bild gezeigt und gesagt: "Ihr Ehemann hat eine Freundin, 'ne Geliebte." Wir durften nicht Opfer sein. Wir hatten nicht das Recht, Opfer zu sein.

Was war der schlimmste Moment während der Ermittlungen für Sie?

Simsek: Das war, als die Polizisten plötzlich ins Haus hereingebrochen kamen. Die haben nicht mal geklingelt, sie haben gleich alles durchsucht. Das haben sie öfter gemacht all die Jahre. Wenn dann wieder ein Mord passierte, ging alles von vorne los. Dann kamen sie wieder. Und nochmal. Und nochmal.

Wie hat das Ihre Mutter aufgenommen?

Simsek: Für sie war das sehr, sehr schlimm. Vor allem bei den weiteren Morden hat sie immer an die Frauen und Kinder der Opfer gedacht. Sie ist ein sehr mitfühlender Mensch, und das hat ihr wirklich sehr zu schaffen gemacht.

Was haben Sie vermutet, wer Ihren Vater umgebracht haben könnte?

Simsek: Am Anfang wusste ich das noch nicht. Aber nach dem zweiten, dritten, vierten, fünften Mord, immer mit der gleichen Waffe, war es für uns klar: Die Spur führt in die rechte Szene.

„Sie haben nicht mal geklingelt“: Abdul-Kerim Simsek schildert, wie die Polizei jahrelang seine Familie verdächtigte, in den Mord verstrickt zu sein.

„Sie haben nicht mal geklingelt“: Abdul-Kerim Simsek schildert, wie die Polizei jahrelang seine Familie verdächtigte, in den Mord verstrickt zu sein. © Stefan Hippel

Doch die Polizei wollte das nicht sehen?

Simsek: Die Polizei wusste das meiner Meinung nach auch. Wir haben das ja öfter erwähnt. Es hieß, dass sie auch bei den Rechten nachgeguckt haben, aber sie haben darauf bestanden, in eine andere Richtung zu ermitteln. Doch es kam ja nie was raus dabei.

Diese falschen Verdächtigungen und die hartnäckigen Ermittlungen gegen Sie und Ihre Familie haben tiefe Wunden hinterlassen. Sind sie heute etwas verheilt?

Simsek: Sie wären sicher verheilt, wenn der NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und die anderen Angeklagten gut gewesen wäre. Wenn das Urteil wirklich zufriedenstellend wäre, dann wären sie wahrscheinlich verheilt. Aber jetzt ist genau das Gegenteil passiert, jetzt habe ich noch eine größere Wunde in mir und noch mehr Lasten zu schleppen. Leider.


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Das Urteil im NSU-Prozess ist vor zwei Jahren gefallen, fünf Angeklagte wurden verurteilt, zwei davon wurden sofort frei gelassen. Beate Zschäpe erhielt als Mittäterin "lebenslänglich". Was bedeutet das für Sie?

Simsek: Dieser Urteilsspruch sagt mir, in Deutschland kann man Terroristen unterstützen, man kann ihnen Waffen besorgen, man kann ihnen eine Wohnung besorgen, man kann letztlich alles machen, am Ende kommst Du auf freien Fuß. Das ziehe ich aus diesem Rechtsspruch heraus.

Sie haben im Prozess als Zeuge ausgesagt. Was haben Sie sich erhofft?

Simsek: Für mich war die Aufklärung wichtig. Für mich stand nie im Fokus, wer am Ende wie
viele Jahre als Strafe bekommt. Ich wollte, dass jeder, der seine Finger im Spiel hatte, aufgedeckt wird. Aber es ist ja genau das Gegenteil passiert. Wir haben gesagt: Der NSU ist ein Netzwerk. Aber das Gericht hat immer versucht, den NSU als Trio hinzustellen. Zum Prozessauftakt waren wir noch optimistisch, aber im Laufe der Jahre haben wir gesehen: Es ging in die falsche Richtung.


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Was ist für Sie jetzt noch die wichtigste offene Frage im Fall des Mordes an Ihrem Vater?

Simsek: Es gibt viele offene Fragen. Aber ein zentraler Punkt ist: Wie wurde mein Vater ausgewählt. Hier in Nürnberg gibt es noch Mittäter, die frei herumlaufen, die meinen Vater ausgekundschaftet haben, die auch die zwei anderen Männer, die in Nürnberg danach vom NSU erschossen wurden, ausgekundschaftet haben. Die saßen nicht auf der Anklagebank. Wir wissen: die gibt es, aber wo sie sind und was sie machen, wissen wir nicht.

Wäre Ihnen eine Entschuldigung der Behörden für all die fehlerhaften und falschen Ermittlungen wichtig?

Simsek: Frau Merkel hat sich zwar für das Land entschuldigt. Aber von offizieller Seite, zum Beispiel von Seiten der Polizei, hat man nie eingestanden, dass sie schuld an der Entwicklung waren. Das fehlt noch. Aber wenn eine Entschuldigung jetzt kommen würde, hätte es keinerlei Bedeutung mehr für mich. Denn es kommt zu spät.

Was erwarten Sie jetzt vom Staat?

Simsek: Erst nach dem Mord an Walter Lübcke hat sich einiges geändert. Warum nicht vorher? Wir haben so viele Jahre verlangt, dass gegen Rechtsextremismus und Terrorismus von Rechts viel mehr gemacht werden muss. Aber nie haben unsere Schreie Gehör gefunden. Das deutsche System ist so träge.

Am vergangenen Samstag haben 300 Menschen bei der Kundgebung auf dem Parkplatz in der Liegnitzer Straße ihre Solidarität mit Ihnen bekundet. Was ist das für ein Gefühl für Sie?

Simsek: Ganz ehrlich, wenn diese Menschen nicht wären, hätte ich gar keine Kraft mehr, weiter zu machen. Wenn Nazis irgendwo eine Demo machen, sehe ich oft genauso viele Leute, die zur Gegendemo kommen. Das stärkt mich. Das zeigt mir: Du bist in Deutschland zu Hause.

Sie haben den schweren Gang nach Nürnberg angetreten. Was möchten Sie damit zeigen?

Simsek: Deutschland bewegt sich in die falsche Richtung. Da muss sich was ändern. Deutschland darf nicht weiter auf dem rechten Auge blind sein. Wir reagieren noch viel zu locker auf rechtsextreme Bewegungen. Würden wir mit gleicher Härte durchgreifen wie beim islamischen Terror, würde es hier ganz anders aussehen.

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