Skepsis und Verschwörungstheorien: Wie Corona eine Familie spaltet

8.11.2020, 11:24 Uhr
An dieser Kundgebung nahm der Ehemann von Marlies Keller (Name geändert) nicht teil, bei den Corona-Demonstrationen in Berlin am 1. und am 29. August war er aber dabei.

© Michael Matejka An dieser Kundgebung nahm der Ehemann von Marlies Keller (Name geändert) nicht teil, bei den Corona-Demonstrationen in Berlin am 1. und am 29. August war er aber dabei.

Am 7. November feiert Jule Keller (alle Namen geändert) ihre Jugendfeier beim Humanistischen Bund. So etwas ähnliches wie die Konfirmation bei Protestanten – ein ziemlich bedeutendes Fest für die 14-Jährige und ihre Familie also.

Protest statt Familienfeier

Aber nicht für die ganze Familie. Denn ihr Vater wird nicht dabei sein bei der Feier, die wegen Corona nur per Zoom, also digital, stattfinden kann. Der 65-Jährige hat seiner Ansicht nach viel Wichtigeres vor an diesem Samstag: Er fährt zur "Querdenker"-Demo nach Leipzig – einem jener Treffen von Corona-Skeptikern, die in Berlin Anfang und Ende August für Schlagzeilen sorgten; Anfang Oktober gab es so eine Kundgebung auch in Nürnberg.

Jules Vater ist in den vergangenen Monaten zum fanatischen Verschwörungstheoretiker geworden. Seitdem geht ein immer größerer Riss quer durch die dreiköpfige Familie. Jules Mutter beobachtet die wachsende Entfremdung; sie berichtet von einer raschen Radikalisierung: "Das war schon hammerhart, wie das zugeschlagen und sich dann verschärft hat", sagt die 56-Jährige.

Zu Beginn der Pandemie war noch nichts zu merken vom Abdriften ihres Mannes, so Marlies Keller. Bemerkt hat sie seine Wandlung erstmals, als sie ihm einen Artikel aus dem Spiegel zeigte. Das Magazin sei doch "bezahlt von Bill Gates", behauptete er.


Demo in Nürnberg: Was treibt "Querdenker"-Gründer Michael Ballweg an?


In der Tat bekommt das Blatt drei Jahre lang Fördergelder von der Bill & Melinda Gates Foundation für Recherche-Projekte, insgesamt 2,3 Millionen Euro. Der Spiegel hat das allerdings immer transparent gemacht. Doch für Corona-Skeptiker, die bekanntlich den Multimilliardär Bill Gates für den Drahtzieher hinter der angeblich inszenierten Pandemie halten, ist das Magazin damit Teil jener Weltverschwörung, die sie am Werk sehen.

"Bill Gates rauf und runter" präge seitdem das Denken ihres Mannes, erzählt Marlies Keller. "Vorher" sei er überhaupt nicht in den sozialen Netzwerken und im Internet unterwegs gewesen.

Stundenlang im Netz und auf Telegram

Nun verbringe er Stunden im Netz – vor allem auf Telegram, einer besonders intensiv von Corona-Skeptikern genutzten Plattform, auf der auch der vegane Berliner Koch Attila Hildmann seine kruden Thesen unters Volk bringt. "Mein Mann investiert da viel Zeit und auch Mühe, um Texte zu übersetzen." Und ist voll überzeugt davon, dass "Corona" nur eine Inszenierung ist – mit dem Ziel, die Weltbevölkerung zu reduzieren, zu kontrollieren (per implantiertem Daten-Chip) und zwangszuimpfen. Es ist eine Weltsicht, die nicht wenige teilen.

Zitat aus einer Leser-Mail an unsere Zeitung: "Wenn man uns ein Stück Land geben würde, auf dem wir in Ruhe unser Geld verdienen dürften, ohne Zwangsimpfung, Zwangs-Chippung, Bargeldabschaffung, Überwachung, ohne Indoktrination durch Schulpflicht – ich sage Ihnen: Hunderte oder Tausende Deutscher würden dorthin auswandern (Ihre Krankenhäuser bräuchten wir nicht, wir würden unsere eigenen Ärzte mitnehmen). Diese Zwangsmaßnahmen werden alle kommen."

Unsere Zeitung hat aktuell häufig mit Corona-Skeptikern zu tun und mit Menschen, die felsenfest davon überzeugt sind, dass eine kleine Elite eine neue Weltordnung anstrebt. Als ein Leser schrieb, er glaube voll und ganz daran, dass Corona eine verabredete, konzertierte Aktion der Staatschefs aus aller Welt sei, fragte die Redaktion zurück: "Sie halten es tatsächlich für möglich, dass Regierungen weltweit sich abstimmen und einen Virus unters Volk/ die Völker bringen?"

Die Antwort des Lesers: Ja, er halte das für sehr wahrscheinlich. Denn: Wie sonst sollten sich über 190 Länder so schnell geeinigt haben, die fast gleichen Maßnahmen durchzuführen, wo diese sonst so zerstritten seien? Die Redaktion hakte nochmal nach und antwortete, die These vom Großen Plan sei doch wohl eine Verschwörungstheorie. Rasche Rückmeldung: Ja, das sei verständlich, vielen seiner Bekannten gehe es auch so, sie verstünden ihn nicht. Aber manchmal sei eine "Lüge so groß, dass sie nie für die Wahrheit gehalten werden" könne.

Flugblätter statt Zeitungslektüre

Eine Weltsicht, die Marlies Kellers Mann teilt. Dazu müsse er sich "richtig" informieren – was für ihn bedeutet: keinesfalls in "Mainstream-Medien" wie unserer Zeitung. "Er druckt mir Flugblätter persönlich aus", berichtet sie.

Die nervliche Dauer-Anspannung durch diese Verwandlung ihres Mannes macht ihr sichtbar zu schaffen. Sie habe sich eine Art Selbstzensur auferlegt: "Was erzähle ich ihm noch oder eben nicht mehr? Lasse ich am besten kein Radio mehr laufen, um Wortbeiträge zum Thema Corona und den dann zwangsläufigen Streit über seine Thesen und einen neuen ,Corona-Vortrag‘ von ihm zu vermeiden?"

Briefe an die Schule

Einen ersten, deutlichen Riss für ihre Beziehung gab es, als ihr Mann, ohne sie zu informieren, an die Schule ihrer Tochter schrieb, und zwar mehrfach. Er wandte sich in diesen Schreiben gegen die Maskenpflicht an der Schule und gegen jeden eventuellen Test seiner Tochter. "Das war der erste Schock für mich", sagt Marlies Keller.

Ihr Bruder ist Biochemiker, dessen Frau Medizinerin. Beide bezweifeln nicht, dass Corona eine Pandemie ist – aber in Gesprächen im Familienkreis gelang es ihnen nie, ihren Verwandten von ihrer Sicht zu überzeugen. Im Gegenteil, die Radikalisierung seines Denkens schreite voran, berichtet Marlies Keller.


+++ Alle aktuellen Entwicklungen rund um das Coronavirus in unserem Live-Ticker +++


"Inzwischen ist er auch fest davon überzeugt, dass es Chemtrails gibt" – dass also Flugzeuge im Auftrag von Regierungen Chemikalien versprühen. Sämtliche Fachleute verweisen diese krude These in das Reich der Verschwörungstheorien und betonen, es handle sich dabei stets um die üblichen Kondensstreifen hinter Flugzeugen – solche Belege verpuffen allerdings bei den Chemtrail-Anhängern, die auch darin einen Teil des "großen Plans" sehen.

"Er fühlt sich wissend"

Marlies Kellers Mann war bei den großen Berliner Corona-Demonstrationen am 1. und 29. August dabei. Bei einer Busfahrt dorthin saß er zufällig neben einer Anhängerin der "Reichsbürger". Seitdem hat er auch für deren Theorien ein offenes Ohr: Es gebe doch gar keinen Friedensvertrag für die Bundesrepublik, die daher überhaupt kein souveräner Staat sei, dessen Recht und Gesetz man auch nicht folgen müsse... "Alles, was da abgeht, bekomme ich brühwarm präsentiert", sagt Marlies Keller.

"Er fühlt sich wissend", berichtet sie über ihren Mann. Und auch ein Stück weit ihr überlegen, weil er schließlich die "richtigen" Informationen habe. Infos, die seine Frau der gemeinsamen Tochter vorenthalte – das wirft er ihr vor. Sie schade Jule dadurch sogar, kritisiert ihr Mann Marlies Keller.

Die Corona-Skeptiker, von manchen Politikern als "Covidioten" angeprangert, haben für alle, die ihren Thesen nicht glauben und sich an die Regeln wie etwa die Maskenpflicht halten, einen ähnlich abwertenden Begriff wie "Covidioten" parat: "Schlafschafe" seien all jene, die weitgehend einverstanden sind mit der Corona-Politik von Bund und Ländern.

Marlies Keller ist ziemlich verzweifelt über das Abdriften ihres Mannes. "Man ist machtlos und muss mit ansehen, wie jemand einem so schnell so heftig entgleitet", sagt sie. Eine Entwicklung mit Auswirkungen fürs gemeinsame Leben: Sie habe sich inzwischen angewöhnt, Besucher und Freunde vor den Positionen vorzuwarnen, die ihr Mann vertritt.

Und bei ihrer Tochter Jule übernachten mittlerweile nur noch ganz selten Freundinnen: Mutter und Tochter haben solche Besuche deutlich zurückgefahren aus Angst, dass ihr Vater bzw. Mann die Gäste mit seinen Corona-Thesen überzieht. "Da stellt sich natürlich auch die Frage, was das alles mit Jule macht", sorgt sich Marlies Keller.

Und sie zieht für sich eine einschneidende Konsequenz: Sie trennt sich von ihrem Mann – weil seine Sicht auf Corona das Paar und die Familie entzweit hat.