Ex-Club-Trainer Weiler: Ein Fußball-Abenteuer in Kairo

8.4.2020, 12:38 Uhr
Schrammte mit dem Club nur hauchzart am Aufstieg vorbei: René Weiler.

© Sportfoto Zink / WoZi Schrammte mit dem Club nur hauchzart am Aufstieg vorbei: René Weiler.

René Weiler hat momentan viel Zeit zum Nachdenken. Das tut er gerne, dabei geht es nicht nur um Fußball. Der Schweizer ist ein sehr reflektierter Mensch, wer sich dieser Tage aus der Ferne mit ihm austauscht, muss sich die Szenerie so vorstellen: Weiler im Restaurant eines großen Hotels in Kairo, oft ist er der einzige Gast. Der Komplex mit 440 Zimmern, der normalerweise Geschäftsreisende aus aller Welt beherbergt, steht fast leer, das Coronavirus lähmt auch Afrika. Nur der prominenteste Gast ist geblieben.

Das ist René Weiler längst, er ist eine Berühmtheit in Ägypten, jeder Trainer des Al Ahly Sports Club in Kairo ist eine sehr öffentliche Person – mit eingeschränktem Privatleben, Weilers Popularität löst überall, wo er auftaucht, kleine Menschenaufläufe aus. Der afrikanische Vereinsfußball ist außerhalb der Grenzen des Kontinents wenig präsent, zu Hause ist das Spiel ein Ereignis, Ägyptens Qualifikation für die WM 2018, die erste seit 28 Jahren, versetzte das ganze Land in einen Rausch. Zig Millionen Menschen feierten friedlich auf Straßen und Plätzen, Zehntausende verbrüderten sich sogar mit den Polizisten des vom Militär dominierten Regimes. Von einer "Sternstunde für das ganze Volk" schrieb die Zeitung Al-Ahram.

Weiler contra Vorurteile

Ägyptens Rekordmeister Al Ahly, gegründet 1907, ist der größte Klub Afrikas und in der gesamten arabischen Welt so populär wie kein anderer Verein. Weltweit Schlagzeilen aber machte Al Ahly im Februar 2012, als einem 3:1-Sieg beim Erzrivalen Al Masry im Stadion von Port Said wüste Ausschreitungen und eine Massenpanik folgten, am Ende waren 72 Menschen tot – und machten Gerüchte von einem gesteuerten Exzess die Runde, weil die Ultras von Al Ahly ein Jahr zuvor zu den Anführern der Revolution gegen das Regime von Hosni Mubarak gehörten.

All das wusste René Weiler natürlich, als er im vergangenen Sommer – nach einem kurzen Intermezzo beim FC Luzern – das Angebot aus Kairo prüfte. Viele Experten haben ihm abgeraten, ihn gewarnt vor einer fremden (Fußball-)Kultur und einer Erwartungshaltung, wie sie selbst in diesem ungeduldigen Spiel selten ist. Sechs Trainer hatte der Verein zuvor in zwei Jahren verschlissen. "Ich bin immer wieder erstaunt, wer sich erlaubt, über Länder, Mannschaften oder Menschen ein Urteil zu fällen", hat Weiler damals Schweizer Medien gesagt.

Kompromisslos und menschlich

Weiler bildet sich sein Urteil lieber selbst, er ist ein sehr gewissenhafter Arbeiter, sieht aber Fußball nicht als existenziell an, auch ein Leben ohne dieses Spiel, das sagte er oft, könne er sich gut vorstellen. Das machte ihn freier für Entscheidungen: Er verließ den 1. FC Nürnberg, den er als Abstiegskandidaten übernommen und ans Tor zur Bundesliga geführt hatte, weil er im Sommer 2016 einen Mangel an realistischem Gemeinsinn ausgemacht hatte; er verließ den RSC Anderlecht, mit dem er die belgische Meisterschaft gewonnen hatte, als dort dubiose Geschäftspraktiken von nicht minder dubiosen Beratern im Transfergeschäft ruchbar wurden.

"Ich bin mir und gewissen meines Erachtens nach gesunden Werten immer treu geblieben", sagt Weiler jetzt in der Einsamkeit des Hotels, "selbst wenn ich spürte, dass das System mich nicht gewähren lassen würde." "Eine Melange aus Kompromisslosigkeit und Menschlichkeit" hat die Neue Zürcher Zeitung nach einem Besuch in Kairo Weilers Stil jetzt treffend genannt. Das hat ihm geholfen, Weiler ist außerordentlich erfolgreich gestartet, Al Ahly führt die Liga zur Halbzeit mit einer sensationellen Bilanz an – 17 Spiele, 16 Siege, ein Remis – und steht im Halbfinale der afrikanischen Champions League.

"Vieles auf dem Prüfstand"

Weilers sachlicher, ehrlicher Umgang mit den Spielern kommt gut an, es macht ihm Freude, sich dem Gastgeberland zu öffnen. Dankbar, sagt er, sei er um die Erfahrungen, die ihm der Fußball schenkt, jetzt um einen willkommenen Perspektivwechsel im Blick auf das eigene Leben; "intensiv, spannend und lehrreich" nennt er das ägyptische Abenteuer.

Wie es weitergeht, weiß auch am Nil niemand. Weiler, 46 Jahre alt und Vater von zwei Söhnen – die Familie lebt in Zürich – will vorerst in Kairo bleiben, da sein für den Klub und die Spieler, so weit das möglich ist, das, findet er, gehöre zu seiner Verantwortung. Er hat Zeit für viele Gedanken. "Fußball vereint, lehrt, schürt Emotionen, verursacht Seilschaften, Abhängigkeiten, Gier", sagt er: "Nun steht vieles auf dem Prüfstand."

René Weiler ist gespannt darauf, was sich mit der Krise vielleicht verändert – und sicher, dass er dann wieder etwas dazugelernt hat. Nicht nur über Fußball.

Verwandte Themen


Keine Kommentare