Sport und Corona: Eine Gelegenheit zum Nachdenken

28.10.2020, 09:36 Uhr
Wenn die Welt Kopf steht, sollte auch der Sport über seine Entwicklung nachdenken. Für Sportler sollte das kein Problem sein, Hand- und Kopfstand zählen schließlich zu den leichtesten Übungen.

© Sergey Novikov, NN Wenn die Welt Kopf steht, sollte auch der Sport über seine Entwicklung nachdenken. Für Sportler sollte das kein Problem sein, Hand- und Kopfstand zählen schließlich zu den leichtesten Übungen.

Der Sport ist keine Erfindung der Neuzeit. Athleten, sogar Fans, gab es schon in der Antike, aber sie blieben eine Minderheit. Es folgten Jahrhunderte fast ohne Sport, ehe aus der Idee eine der bedeutendsten gesellschaftlichen Triebkräfte wurde – als es den Menschen besser ging, als Gewerkschaften Freizeit erkämpft hatten. Die Freude an der zweckfreien Bewegung verband, soziale Schranken fielen, heute gibt es nur noch sehr, sehr wenige Menschen, die nie mit Sport in Berührung kommen. Der Vereinssport mit seinen fast 30 Millionen Mitgliedern ist in Deutschland eine der stärksten gesellschaftlichen Institutionen.


Sport hinter der Maske: Muss das sein?


Diese Entwicklung zu prognostizieren, wäre noch vor 150 Jahren tollkühn erschienen, diverse Obrigkeiten sahen das Treiben skeptisch und verhängten wiederholt Sportverbote. Sport galt als schädlich für Disziplin und Gesundheit, als rebellisch, hierzulande auch als verdächtig undeutsch, wenn es sich um importierte Disziplinen wie den Fußball handelte. Aber die Begeisterung ließ sich nicht aufhalten, bald gab es – wie in der Kunst – Mäzene des Betriebs, die darüber ihre gesellschaftliche Reputation festigen konnten.

Gerade jetzt könnte Sport helfen

Der Sport hatte das nicht so geplant, es steckte keine Strategie dahinter, er wollte gar nicht wichtig sein. Die Menschen wollten spielen, sich bewegen, sie merkten, dass ihnen das, körperlich und seelisch, guttut. Fast jeder, der es einmal ausprobierte, kam wieder – aus lauter Freude. Warum das so ist, wollten die Menschen gar nicht wissen, die Massenbewegung blieb lange unerforscht. Bald sahen Zehntausende anderen, besonderen Könnern, beim Sport zu und entwickelten dabei eine unvernünftig anmutende Begeisterung, wie man sie in dieser Form nur beim Sport sieht.

Unvernunft kann wunderbar sein, und als sich die Wissenschaften der Sache annahm, war alles leicht erklärbar. Sport lehrt Individualität und Miteinander, das Siegen und Verlieren, sich in eine Gemeinschaft einzuordnen. Sport schafft soziale Kontakte, ist gesund, (meistens) friedlich, spannend und verbindet Menschen über sprachliche oder soziokulturelle Grenzen sogar weltweit. Als unsportlich zu gelten, ist längst ein Makel. Ein Leben ohne Sport schien kaum mehr vorstellbar – bis im Frühling die Corona-Pandemie begann.

Plötzlich wieder Sportverbote

Auch den Sport traf sie vollkommen unvorbereitet, stieß aber eine Selbstreflexion an, die anders ausfällt als in verwandten Lebensbereichen. Was Kunst eigentlich sein soll, wohin sie will, ist eher keine öffentlich laut diskutierte Frage, der Sport hingegen muss sie jetzt beantworten. Der Profifußball zum Beispiel nahm zur Empörung schnellstmöglich den Betrieb wieder auf, um ihre Milliardengeschäfte zu sichern. Aber wozu sonst?


Corona bringt Ehrenamtliche im Amateursport an Grenzen


Sind die besonderen Könner, die dort kicken, noch Vorbilder, denen man zujubeln mag? Die Frage ist nicht neu, hat mit der Krise aber Dynamik aufgenommen, selbst innige Fans erfreuten sich nur sehr bedingt an Fernseh-Übertragungen von Geisterspielen. Ein wesentlicher Teil des Sports, gewachsen aus der Gesellschaft, wirkt, als entwickle er sich gegen sie – während Millionen Amateur- und Freizeitsportler ihrer Leidenschaft nur eingeschränkt und vielleicht bald wieder gar nicht mehr nachgehen können. Erstmals seit der Gründerzeit gab es wieder Sportverbote, notgedrungen.

Zwischen Gier und Begeisterung

Im Grunde ist es paradox: Bisher konnte Sport, aktiv wie passiv, in Krisenzeiten trösten, ein Fluchtort sein, Ablenkung bedeuten und Erholung, Zerstreuung. Jetzt lähmt diese Krise auch den Sport selbst, den für den Unterhaltungsmarkt inszenierten genauso wie den privaten, individuellen, kleinen – und liegt der Gedanke nahe, dass damit etwas wirklich Wichtiges fehlt, weil Sport für vieles steht, was der Gesellschaft gerade jetzt helfen könnte: Gemeinsamkeit, Widerstandsgeist, Gesundheits-Prävention, Lebensfreude.

Vielleicht verschiebt die Krise die Perspektiven, vielleicht verhilft sie dem Amateur-, Breiten-, Kinder- oder Seniorensport zu mehr Anerkennung. Möglicherweise nutzt der professionelle Profisport – der begeisternd, aber in seiner Gier, seinen Lügen und seinem Egoismus auch abschreckend sein kann – die Gelegenheit, seine eigene Entwicklung zu prüfen. Natürlich muss sich auch Sport stetig verändern, aber sich darauf zu besinnen, wie alles begann, wäre einen Versuch wert. Wer über die Zukunft nachdenken, muss wissen, wo er herkommt.

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