"Julieta": Schmerzhafter Blick auf die Vergangenheit

4.8.2016, 08:40 Uhr

© Tobis

Manchmal glaubt man, sein Leben gut im Griff und die Vergangenheit leidlich sortiert hinter sich zu haben. Doch dann genügt ein Ereignis, eine Begegnung, um alles wieder ins Kippen zu bringen. So geht es Julieta, die sich eigentlich endlich auf ihren Freund einlassen und mit ihm ein neues Leben in Portugal beginnen will. Kurz vor der Abreise aus Madrid trifft sie zufällig auf die frühere beste Freundin ihrer Tochter Antía, die, kaum erwachsen, vor zwölf Jahren den Kontakt zur Mutter sang- und klanglos abgebrochen hat.

Was ist damals passiert?, lautet die zwingende Frage, mit der Almodóvar den Zuschauer zuverlässig ködert. In einer großen Rückblende, die verschiedene Zeiträume und Lebensstufen beleuchtet, fördert er Stück für Stück die Geschehnisse der Vergangenheit zutage. Diese spannungserhaltende Methode ist zwar ganz und gar nicht neu. Doch dem spanischen Star-Filmemacher gelingt dabei wieder einmal etwas Außerordentliches: Die Geschichte mag konstruiert wirken und mit ihren sehr ästhetischen Bildern vielleicht sogar ein bisschen stilisiert daherkommen. Almodóvar füllt diese Strukturen aber so geschickt mit den Mitteln von Melodram und Psychodrama aus, dass man den Figuren - es sind wie so oft bei ihm besonders die starken, fein gezeichneten Frauenparts - sehr nahe kommt.

Julieta (Emma Suárez) jedenfalls taucht noch einmal kopfüber ein in den gut verdrängten Schmerz, den die Trennung von ihrer Tochter Antía verursacht hat. Almodóvar lässt sie Erinnerungsspuren verwischen, an Antías Geburtstag Torten zerstören und Trauerarbeit leisten. Im Rückblick sieht man Julieta als junge, wilde Literaturdozentin mit blonder Struwwelfrisur (nun dargestellt von Adriana Ugarte) im Zug sitzen. Auf dieser Reise wird sie zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert und von Schuldgefühlen geplagt, die in ihrem Leben noch oft eine Rolle spielen werden.

Doch zugleich begegnet sie ihrer großen Liebe, dem galizischen Fischer Xoan (Daniel Grao), der bald Vater von Antía wird. Viel später hat ein Streit zwischen dem Paar unwiderruflich dramatische Folgen, die Mutter und Tochter im Schmerz erst zusammenschweißen, aber letztlich entzweien...

Auch Familienbande sind nicht unverbrüchlich. Aus dieser tragischen Erkenntnis geht Julieta als gebrochene Frau hervor. Ihre Verwandlung, bei der Emma Suárez den Part von Adriana Ugarte übernimmt, meistert Almodóvar mit einem verblüffenden Kniff.

Seine Sache geht der Autorenfilmer diesmal ernsthafter und weit weniger aufgeregt an als in früheren Filmen, aus denen er hier etwas auffällig zitiert. Und auch wenn "Julieta" einen Tick zu schicksalsüberladen erscheint: Den Frauenfiguren begegnet Almodóvar mit viel Empathie. Ihre Geheimnisse will er dabei gar nicht bis auf den Grund ausleuchten. Und - soviel sei verraten - an Ende erscheint ein Silberstreif am Horizont. (E/99 Min.)

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