"Ein Erdbeben": Augenzeugen über Beirut-Explosion

7.8.2020, 05:31 Uhr

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Als am Dienstagabend eine unfassbare Explosion die Hafengegend von Beirut und ein ganzes Stadtviertel dem Erdboden gleichmachte, hielt sich Elsy Oueiss mit ihrer Schwester in der Kleinstadt Dbayeh, zehn Kilometer nördlich vom Ort der Katastrophe entfernt, in ihrem Büro im zweiten Stock auf. "Wir hörten keine Explosion, wir spürten ein Erdbeben", sagt die 40-jährige Vorsitzende des Auschusses für internationale Angelegenheiten der Lebanese Forces Party (LF), einer aus einer christlichen Miliz hervorgegangenen Partei. "Es machte uns Angst, und wir rannten aus dem Büro die Treppen hinunter. Und da war dann dieser immense Knall."


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Eine andere Schwester wohnt näher am Ort der Explosion. Kurz bevor die Hafengegend in eine Mondlandschaft wie nach einer Atombombe verwandelt wurde, hatten sie noch Lärm wie von niedrig fliegenden Kampfjets gehört. Bei der gewaltigen Detonation wurden sie und ihr Sohn auf den Boden geworfen.

Was genau passierte, ist immer noch unklar. In der Stadt schwirren alle möglichen Gerüchte umher. Einige glauben, es seien israelische Flugzeuge gewesen, die ein Waffendepot der schiitischen Hisbollah-Miliz im Lager Nummer 5 im Hafen angegriffen hätten – und es kursiert ein Video, das diesen Verdacht zumindest denkbar macht. Dann heißt es, das ursprüngliche Feuer sei bei Schweißerarbeiten in der Lagerhalle 9 ausgebrochen und habe dann auf das Lagergebäude 12 übergegriffen, in dem eine riesige Menge von 2750 Tonnen Ammoniumnitrat gelagert war. Noch aber ist alles Spekulation.

"Völlig inakzeptabel"

Ammoniumnitrat kann als Dünger in der Landwirtschaft verwendet werden, aber auch für Sprengstoffe. Von alleine würde es nicht brennen, aber wenn ein Feuer von außen hinzukommt, setzt es gewaltige Energie frei. Nach der Katastrophe zeigte sich Regierungschef Hassan Diab, der erst seit einem halben Jahr im Amt ist, empört. Die Lagerung einer solchen Menge Ammoniumnitrats sei "völlig inakzeptabel". Die Verantwortlichen würden einen hohen Preis zahlen.

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Was für ein gefährlicher Stoff da lagerte, war bekannt. Das Ammoniumnitrat stammt wohl von einem Frachter unter moldawischer Flagge, der im September 2013 auf dem Weg nach Mozambique war, aber nicht genug Treibstoff und Proviant hatte und letztlich konfisziert wurde. Elsy Oueiss erzählt, erst im Juni diesen Jahres habe ihre Partei zum wiederholten Mal einen Vorstoß unterstützt, das Lager zu räumen. Doch die Regierung habe wie früher schon behauptet, die Briefe seien nie angekommen.


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Der russische Eigentümer des gestrandeten Frachters meldete später Bankrott an. Die libanesische Regierung hätte das Ammoniumnitrat also exportieren oder in der eigenen Landwirtschaft als Dünger einsetzen können. Doch nichts dergleichen passierte. "Mit Schlamperei kann man das vielleicht für ein oder zwei Monate erklären, vielleicht sogar für ein Jahr, aber nicht für sechs Jahre", sagt LF-Vertreterin Oueiss. "Es muss also einen anderen Zweck haben."

In Deutschland gelagert?

Die Jerusalem Post berichtet, die Hisbollah habe möglicherweise versucht, Ammoniak als Beschleuniger für Raketen einzusetzen. Elsy Oueiss weist drauf hin, dass die Miliz den Stoff auch bei Anschlägen etwa in Kuwait und Zypern eingesetzt habe. Im Mai berichtete Zeit Online, dass die Miliz hunderte Kilogramm Ammoniumnitrat in Lagerhäusern in Süddeutschland gelagert haben soll.

Dass die Regierung dies wirklich aufklären möchte, glaubt Oueiss nicht. "Sie wird kein Ergebnis veröffentlichen, das nicht im Interesse der Hisbollah ist", ist sie sicher. "Wir brauchen eine unabhängige Untersuchungskommission der UN." Ob es dazu kommen wird, ist fraglich.


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Im Hafen von Beirut und Kilometer weit entfernt ist die Zerstörung enorm. Gebäudefassaden sind total zerstört, Straßen mit Glassplittern übersät. Auch die Suche nach Opfern geht weiter. Mehr als 130 Tote und rund 5000 Verletzte wurden bislang gezählt. Die Zahlen dürften steigen. Unter den Toten ist auch eine Mitarbeiterin der deutschen Botschaft, die nicht weit entfernt von Hafen ist und auch beschädigt wurde.

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Preise für Lebensmittel sind explodiert

Viele Libanesen haben zwischen 1975 und 1990 einen blutigen Bürgerkrieg erlebt. Doch selbst sie sagen: Die Detonation im Hafen ist das Schlimmste, was ihnen widerfahren ist. Seit Monaten leidet das Land ohnehin unter einer schweren Wirtschaftskrise, die durch die Corona-Pandemie weiter verschärft wurde und große Teile der Bevölkerung in Armut getrieben hat. Die Preise, etwa für Lebensmittel, sind explodiert. Im Juni lag die Inflation bei 90 Prozent.

In die Verzweiflung mischt sich wachsende Wut auf die politische Elite. Sie brach sich gestern auch Bahn, als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, begleitet von seinem libanesischen Kollegen Michael Aoun, den Ort der Katastrophe besuchte und Hilfe für den Wiederaufbau versprach. "Ihr seid alle Mörder", schrie eine aufgebrachte Frau vom Balkon. "Wo wart Ihr gestern?" Später brüllte die Menge: "Aoun, Du bist ein Terrorist."

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