Kommentar: Corona-Maßnahmen lockern? Ja, aber...

9.4.2020, 17:03 Uhr
Beschränkungen lockern oder aufheben? So oder so bedarf es einer gründlichen Abwägung.

© NEWS5 Beschränkungen lockern oder aufheben? So oder so bedarf es einer gründlichen Abwägung.

Gesundheitsminister Jens Spahn macht uns Hoffnungen auf Lockerungen der Beschränkungen. Dass darüber nach mehreren Wochen des Shutdowns differenziert und unter Abwägung des Für und Wider nachgedacht wird, ist eine gute Idee. Aber auch, wenn die Biergärten und Frisiersalons eines Tages wieder offen haben, sollten wir nicht einfach so weiter machen wie vor Corona. Es gilt die Lehren aus dieser weltweiten Pandemie zu ziehen.

Erstens: Das Virus verbreitete sich rasend schnell um die ganze Welt. Maßgeblich dafür ist unser Reiseverhalten. Wir jetten nicht nur zum Urlaubmachen in weit entfernte Länder, auch Geschäftsreisen von Mitarbeitern global aufgestellter Unternehmen sorgten vor Corona für massenhaft Flugbewegungen. Erinnern wir uns: Die ersten Corona-Patienten in Bayern und Deutschland waren Mitarbeiter eines international agierenden Autozulieferers, die im Rahmen einer Schulung Kontakt zu Kollegen aus China hatten.


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Zweitens: Wir haben uns darauf verlassen, dass globale Lieferketten funktionieren. Dass alles, was irgendwo auf der Welt produziert wird, per Flugzeug, Schiff und Lkw jederzeit zuverlässig und pünktlich bei uns ankommt. Wir haben auf globalen Freihandel gesetzt, Lagerkapazitäten vor Ort reduziert und die Produktion dahin outgesourcet, wo es eben billig war. Mit der Konsequenz, dass jetzt überlebenswichtige Produkte wie Schutzmasken und Desinfektionsmittel knapp sind. Schnelle Abhilfe war erst einmal nicht möglich, weil vor Ort in Deutschland und Europa die Produktionskapazitäten fehlten.

Drittens: Wir haben geglaubt, dass Einrichtungen der infrastrukturellen Grundversorgung wie Kliniken einen Gewinn erwirtschaften sollen. Das Gesundheitssystem in Deutschland war deswegen schon vor Corona nah an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit "optimiert" worden, weil an Reservebetten und Personal gespart wurde. Dass es trotzdem noch halbwegs funktionierte, lag schon vor Corona nur am übermenschlichen Einsatz von Ärzten und Pflegepersonal. Kleinere und angeblich unrentable Krankenhäuser auf dem Land werden seit Jahren eines nach dem anderen dicht gemacht - jetzt bräuchten wir sie dringend. Denn auch wenn ein kleines Landkrankenhaus vor der Schließung nur zwei oder drei Intensivbetten hatte: Über die ganze Republik hochgerechnet wären es heute hunderte Intensivplätze mehr, wenn wir die Häuser nicht aufgegeben hätten.



Zudem ginge die Ausbreitung des Virus unter dem medizinischen Personal nicht so schnell, wenn es räumlich verteilt an mehr kleinen Standorten arbeiten würde, statt an einem zentralen großen. Das Problem des Kostendrucks im Gesundheitssektor verschärfte sich nach der Finanzkrise ab 2008 besonders in den hart gebeutelten Ländern Südeuropas. In Spanien ist die Lage heute unter anderem deswegen so dramatisch, weil dort in den letzten zehn Jahren unter dem Druck der Finanzmärkte massiv im Gesundheitswesen gespart wurde.

Viertens: Es gibt in diesen Tagen und Wochen der Krise beispiellose Initativen der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Hilfe. Nachbarn, die für ältere Menschen einkaufen. Kinder, die für die Bewohner von Seniorenheimen auf der Straße singen. Dörfliche Gruppierungen, die kostenlos Masken nähen. Es gibt aber auch Leute, die jetzt meinen, auf fallende Aktienkurse ohnehin strauchelnder Unternehmen wetten zu müssen, und die etwa durch Leerverkäufe im großen Stil die Abwärtsspirale noch beschleunigen. Oder Leute, die teure Abmahnungen verschicken, wenn jemand eine selbst hergestellte Maske in juristischer Unkenntnis mit einem geschützten Begriff wie "Atemschutzmaske" an andere Menschen abgibt. Leute also, die gewissenlos Profit aus der allgemeinen Not ziehen wollen.


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Wenn wir also aus der Coronakrise etwas lernen wollen für die Zukunft, dann das: Die hemmungslose Globalisierung der Märkte und die Gewinnmaximierung um buchstäblich jeden Preis müssen ein Ende haben. Dass es nicht automatisch gut wird, wenn "die unsichtbare Hand des Marktes" alles regelt und jeder zuerst an sich denkt, haben uns vor Corona auch schon die Vermüllung der Meere mit unserem Wohlstandsplastik, die explodierenden Miet- und Immobilienpreise in den Großstädten, die weltweiten Flüchtlingsströme und der Klimawandel gezeigt.

Ja also zu Lockerungen der Beschränkungen nach einer gründlichen Abwägung von Chancen und Risiken. Wir wollen schließlich alle früher oder später mal wieder in den Biergarten oder zum Friseur. Ein entschiedenes Nein aber zu einem unreflektierten Weiterso wie vorher.


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