Deutsches Jobwunder oder Mogelpackung?

23.7.2013, 08:23 Uhr
Die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist vergleichsweise gut - doch wie sieht es mit der Qualität der Jobs aus?

© dpa Die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist vergleichsweise gut - doch wie sieht es mit der Qualität der Jobs aus?

„Wir haben erhebliche Anstrengungen unternommen, den Arbeitsmarkt weiter zu flexibilisieren“, berichtete der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung im Jahr 2003. Die Flexibilisierung, von der er sprach, bedeutete unter anderem eine Aufwertung der Leiharbeit, die Senkung der Kosten für gering bezahlte Jobs von unter 800 Euro, die Erleichterung der Selbstständigkeit und: den Ersatz der Arbeitslosenhilfe durch Hartz IV.

Wer arbeiten konnte und wollte, so das Credo der damaligen Regierung, der sollte dazu die Chance bekommen. Und niemand sollte mehr Gelegenheit haben, „sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen“, so Schröder.

Heute schwören Unternehmer auf die wachstumsfördernde Wirkung der damals geschaffenen neuen Formen der Beschäftigung. „Arbeit ist für Arbeitslose der Einstieg in den Aufstieg, die Selbstgestaltung des Lebens ist durch Arbeit einfacher und deshalb müssen wir den Arbeitsmarkt weiter so flexibel halten, wie er derzeit ist“, sagt etwa der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, Bertram Brossardt.

Tatsächlich: Die Statistik sieht gut aus. Im Juni 2013 waren in ganz Deutschland 6,6 Prozent der erwerbsfähigen Bürger arbeitslos – in Bayern sogar nur 3,6 Prozent. In Erlangen und Fürth sind derzeit weniger als 2500 Menschen arbeitslos gemeldet, in Nürnberg knapp 21.000. Insgesamt ist die Zahl der Erwerbstätigen in Mittelfranken seit 2011 um 2,5 Prozent gestiegen.

Doch Statistiken nutzen vor allem demjenigen, der sie in Auftrag gibt - ihre Aussagekraft ist begrenzt. Auf diese Weise tauchen zum Beispiel einige Gruppen nicht in der Arbeitslosenstatistik auf. Etwa, wer einen Ein-Euro-Job ausübt oder wer gerade an einer Fortbildungsmaßnahme teilnimmt. Aufsehen erregte vor wenigen Monaten zudem die Nachricht, das Wirtschaftsministerium unter Philipp Rösler habe aus dem jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht die Passage gestrichen, in der es heißt: „Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt“.

Die Nationale Armutskonferenz hat den Ergebnissen des Berichts prompt widersprochen. Auch ist Arbeit der Armutskonferenz zufolge längst kein Königsweg mehr aus der Armut. Denn immer mehr Beschäftigte gehen schlecht bezahlten oder mehreren Jobs nach und kämen damit kaum über die Runden, schreibt der Zusammenschluss sozialer Organisationen in seiner Sonderausgabe „Schattenbericht der Nationalen Armutskonferenz“.

Eine Studie der Universität Duisburg-Essen deutet in die gleiche Richtung. Demnach ist die Zahl derer, die ihr Gehalt mit staatlichen Mitteln aufstocken müssen, in den vergangenen Jahren gestiegen. Im Oktober 2012 hatte knapp ein Drittel der Hartz IV-Empfänger zusätzlich einen Job – etwa die Hälfte davon war sogar sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Im Jahr 2007 war in der gleichen Gruppe nur ein Fünftel auf zusätzliche staatliche Unterstützung angewiesen.

Es sind diese Art von Nachrichten, die dem Ruf nach einem gesetzlichen Mindestlohn Auftrieb verleihen. Auch den Wissenschaftlern des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bereiten die zunehmenden Unterschiede in der Lohnverteilung und die auseinanderdriftende Qualität der Arbeitsverhältnisse Sorgen. „Die Reallöhne sind in den vergangenen Jahren im Mittel gesunken und die Zahl der atypisch Beschäftigten hat deutlich zugenommen“, heißt es in einer Stellungnahme des Instituts.

Nicht nur internationale Unternehmen wie Amazon geraten durch ihre Dumpinglohn-Politik in die Schlagzeilen, auch gemeinnützige Organisationen wie die Diakonie müssen für die niedrigen Gehälter, die sie bezahlen, heftige Kritik einstecken. Zudem gebe es Hunderttausende, die eigentlich Anspruch auf Hartz IV hätten, die es aber nicht beantragen – zum Beispiel, weil sie sich für ihre Bedürftigkeit schämen. Zu diesem Schluss kommt das IAB in einer Studie, deren Ergebnisse im Mai veröffentlicht wurden.

Das Stichwort „Scham“ weist darauf hin, dass es beim Thema Arbeitsmarkt nicht nur um harte Fakten und Zahlen geht, sondern auch um persönliche Erfahrungen, die Statistiken nicht ausdrücken können. Welche Folgen hat es für den Einzelnen, wenn er von seiner Arbeit nicht leben kann, wenn er als Zeitarbeiter kein integrierter Teil eines Betriebes ist oder wenn er für seine Leistung keine Anerkennung bekommt? „Menschen unterscheiden sich sehr darin, wie sie Ereignisse bei der Arbeit wahrnehmen“, sagt die Psychologin Cornelia Niessen. Krankenkassen und Psychologen stimmen darin überein, dass die Zahl psychischer Erkrankungen im Zusammenhang mit Arbeit zugenommen haben.

Der heutige Arbeitsmarkt ist in ständiger Bewegung, der Einzelne muss sich darin zurechtfinden - aber auch die Gesellschaft im Ganzen wird sich verändern. Ist auch die Mittelschicht zunehmend davon bedroht, in prekäre Beschäftigungsverhältnisse abzurutschen?

Es stellt sich die Frage, ob Deutschland ein Jobwunder in Krisenzeiten ist oder ob das, was sich für viele falsch anfühlt, tatsächlich falsch läuft. 

Infografik: Arbeitsmarktzahlen in der Metropolregion:

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