Fall 35 der Weihnachtsaktion

Geflohen vor Chinas brutaler Hand: Uigurische Familie setzt alles auf den Neubeginn

23.12.2021, 12:00 Uhr
Auch in Nürnberg haben schon Mitglieder der uigurischen Volksgruppe gegen ihre Verfolgung durch die Volksrepublik China demonstriert - hier 2018 auf dem Jakobsplatz.

© Ralf Rödel Auch in Nürnberg haben schon Mitglieder der uigurischen Volksgruppe gegen ihre Verfolgung durch die Volksrepublik China demonstriert - hier 2018 auf dem Jakobsplatz.

Die Gedanken sind frei. Wie es ist, wenn die bürgerliche Freiheit zusammenschnurrt und es sie am Ende nur noch im Kopf gibt – Nadir und Aida können davon erzählen. Bis heute fürchten sie, am Telefon abgehört zu werden, wenn sie mit Familienmitgliedern sprechen, die ebenfalls geflohen sind. Mit den Verwandten in China ist der Kontakt abgerissen. Nachfragen wären gefährlich.

Ein "Brückenmann" hilft ehrenamtlich

Nadir und Aida, deren Familienname zu ihrem Schutz nicht gedruckt wird, leben aus diesem Grund seit zwei Jahren in Deutschland. Mit ihrer 14-jährigen Tochter und den zwei jüngeren Söhnen wohnen sie in einer Gemeinschaftsunterkunft in Eckental bei Nürnberg. Ihre Heimat Almaty, die größte Stadt Kasachstans, liegt 5000 Kilometer entfernt.

"Wir fühlen uns geschützt hier", sagt das Ehepaar beim Interview im Büro der evangelischen "SinN"-Stiftung in Nürnberg. "Deutschland gibt uns Rechtssicherheit. Und die Menschen sind so ruhig und hilfsbereit." Die Stiftung hat der Familie einen ehrenamtlichen Helfer beschert: Dimitri Peterson aus dem Projekt "Brückenmänner". Er dolmetscht für sie auf Russisch, begleitet sie durch den Behördendschungel und stopft die ärgsten Löcher, etwa indem er einen gespendeten Laptop organisiert, damit die Kinder während der Corona-Lockdowns am Heimunterricht teilnehmen können. "Ohne Dimitri wären wir wie ohne Hände und Füße."

Kasachstan hängt wirtschaftlich an Chinas Tropf

Die kasachische Familie teilt das Schicksal mit einer Frau, die im Mai 2022 den Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis bekommen soll: die ethnische Kasachin und chinesische Staatsbürgerin Sayragul Sauytbay. Die Ärztin und Schulleiterin wurde nach ihrer Haft in einem Umerziehungslager in der Provinz Xinjiang zur Whistleblowerin für Chinas aggressive Minderheitenpolitik; sie floh mit ihrer Familie nach Schweden.

Diese Politik der Unterdrückung – Menschenrechtsorganisationen bezeugen Überwachung, Inhaftierung und Folter muslimischer Minderheiten – verändert auch das Leben von Nadir und Aida im Nachbarland. Sie gehören der Volksgruppe der Uiguren an. Das war lange kein Problem in Kasachstan – doch China regiert mittlerweile mit langem Arm hinein und lässt auch dort Uiguren als Staatsfeinde verfolgen und ausliefern.

Kfz-Mechaniker mit eigener Werkstatt

Nadir hat sich für die Belange der Uiguren engagiert, er erzählt von Demonstrationen und Spendenaktionen. Die kasachische Regierung sei abhängig vom großen Nachbarn, wirtschaftlich wie politisch. Und so verstand der Familienvater seine kurze Verhaftung im Herbst 2019, von der er mit Wunden und Schmerzen zurückkehrte, als Warnschuss: Noch eine Aktion, und du schweigst für immer. Auf Kaution kam der selbstständige Kfz-Mechaniker frei – und organisierte die Flucht.

Ein Blick auf Almaty, die größte Stadt Kasachstans.

Ein Blick auf Almaty, die größte Stadt Kasachstans. © imago images/dinozzaver

Das Asylverfahren in Deutschland läuft. Nadir und seine Frau können oft nicht schlafen vor Kummer. Die Kinder wiederum schlafen schlecht, weil andere Bewohner der Unterkunft nachts lärmen. Und manchmal kommt Panik dazu. Was ist, wenn es nicht klappt? Chinesische Staatsbürger bekommen in Europa leichter Asyl, Kasachen wie sie haben schlechte Karten, obwohl ihr Staat sie nicht schütze, wie sie sagen.

Nachwirkungen einer Tumor-Operation

Und dann ist da noch die Sorge um Nadirs Gesundheit. Er hat Herzprobleme und litt an einem seltenen Tumor an einem Blutgefäß zwischen Auge und Gehirn. Die Wucherung verschlechterte sich in Deutschland. In der Uniklinik Erlangen beseitigte man den Tumor in einer aufwändigen Operation. Der heute 37-Jährige verlor dabei sein linkes Auge.

Ein Jahr danach hat er sich, trotz bleibender Einschränkungen, erholt. Er könnte jetzt endlich mit seiner Frau Deutsch lernen; Aida nimmt gerade an einem Online-Programm teil. Auf einen Integrationskurs haben die beiden jedoch keinen Anspruch, solange ihnen eine Aufenthaltsgenehmigung fehlt.


Hier ergreift Dimitri Peterson Partei für das Paar. "Die Finanzierung eines Sprachkurses wäre ihr größter Wunsch. Das würde sie wirklich weiterbringen, so gäbe es eine Perspektive für Ausbildungen." Die Familie zeige sich äußerst bescheiden. "Sie fordern nie etwas, trauen sich oft nicht, mich anzurufen, weil sie mich nicht stören wollen." Spenden brächten auch bei den Fahrten aus Eckental zu Nadirs ärztlichen Behandlungen Entlastung. Die Mobicard – oder das Taxi, wenn es ihm schlecht geht – und die Rezeptgebühren müssen sich die Asylbewerber irgendwie abknapsen.

In seiner Jugend sei er als Russlanddeutscher gekommen und habe die Etappen von Integration durchlebt, erzählt Peterson. "Aber ich hatte es so viel einfacher. Wie unglaublich privilegiert ist mein Leben heute hier, denke ich mir jetzt so oft, wenn ich diese Familie höre."


Die Spendenkonten:

Spk. Nürnberg: DE 637605 01010001 101111;

Spk. Erlangen: DE 28 7635 0000 0000 0639 99;

Spk. Fürth: DE 96 7625 0000 00002777 72;

Postbank Nbg.: DE 8376010085 0400 0948 54

Für zweckgebundene Spenden bitte die jeweilige Fallnummer angeben. Spendenbestätigungen werden für Beträge über 200 Euro unaufgefordert zugeschickt, sofern bei der Überweisung die vollständige Adresse mit angegeben ist. Alle Spendernamen werden veröffentlicht - es sei denn, die Zuwendung ist mit dem Vermerk "anonym" gekennzeichnet.

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