Kommentar: Corona-Epidemie wirft soziale Fragen neu auf

3.4.2020, 05:55 Uhr
Kommentar: Corona-Epidemie wirft soziale Fragen neu auf

© Foto: Krankenhaus Martha Maria

Gerne würde man sagen: Das Virus macht keinen Unterschied. Doch erleben wir, dass manche mit leichten Symptomen davonkommen, während gleichzeitig Covid-19-Infizierte sterben. Und die Ungerechtigkeit geht weiter: In der Katastrophe wird unsere Gesellschaft wie unter einem Brennglas sichtbar – viele Gutverdiener können sich ins Home-Office zurückziehen. Doch Pflegekräfte, Lkw-Fahrer, Paketboten und Polizisten können das nicht – sie sind systemrelevant, auf sie kommt es in dieser Krise an. Die Reinigungskräfte, die mehrmals am Tag über Türklinken wischen und Intensivstationen putzen, sind einem sehr hohen Infektionsrisiko ausgesetzt. Und gleichzeitig schlecht entlohnt.

Wir alle können den Kassiererinnen an den Kassen persönlich danken. Wir können auch den Pflege-Azubis – ihnen ist ihr Risiko wohl bewusst – unsere Achtung aussprechen. Doch fest steht: Die Krise geht vorbei und die Erkenntnis, dass dieses Virus auch die soziale Frage neu aufgeworfen hat, wird hoffentlich bleiben. Die Frage ist: Wollen wir künftig alle Leistungsträger dieser Gesellschaft fair bezahlen?

Keiner murrt und meckert

Krankenhäuser können zu riskanten Orten werden – und in diesen Wochen sind die Hygienebarrieren gegen das Coronavirus schon Meter vor der Notaufnahme des St.-Theresien-Krankenhauses Nürnberg zu sehen: Blaue Container, als Ersatz für eine Pforte, wurden aufgebaut, die Schülerinnen und Schüler der Berufsfachschule für Pflege unterstützen von 7.30 bis 16 Uhr die Sicherheitskräfte.

Im Augenblick sind strikte Hygieneregeln sehr wichtig – es gilt, Abstand zu halten und gerade in Krankenhäusern Infizierte und Nicht-Infizierte zu trennen. Die Azubis, die hier ihren Dienst verrichten, erkundigen sich deshalb bei den
wenigen Ausnahme-Besuchern nach potenziellen Symptomen und einem vorangegangenen Aufenthalt in einem Risikogebiet. Sie lächeln und wirken souverän.

"Verhalten im Katastrophenfall", so schildert Ulrike Brendel, "war noch vorletzte Woche Thema im Unterricht." Man könnte sagen, dass der Theorie in diesen Tagen nun der Praxisteil folgt. "Und keiner murrt und meckert."

Es herrschte eine besondere Situation in dem Krankenhaus, in dem auch die Berufsfachschule für Pflege untergebracht ist: Alle Schulen im Land sind geschlossen, auch die Auszubildenden könnten zu Hause bleiben. Doch hier gilt Schul- und Medizinalrecht – und der Aufruf "Wir ist größer als Ich", mit dem die Schule für den Beruf wirbt, ist zum Motto der Azubis geworden. Jeder Einzelne der 69 Schüler will jetzt helfen.

Pflegeschüler übernehmen große Verantwortung

Ulrike Brendel, stellvertretende Leiterin der Berufsfachschule für Pflege, ist stolz auf den Nachwuchs: Sorgten einige Jugendliche in Nürnberg, Schwabach und Neumarkt zuletzt mit Corona-Partys für Unmut, sei im Krankenhaus im Nordosten der Stadt das Gegenteil zu beobachten: Die Pflegeschüler übernehmen Verantwortung – sie stehen neben den Sicherheitskräften am Eingang, unterstützen ihre Kollegen auf den Pflegestationen und erleben, wie wichtig es ist, dass im Lager ausreichend Schutzanzüge und Gummihandschuhe vorrätig sind.

Für Pflegedirektorin Julia Reger-Rauseo ein Gewinn in der Krise: Alle Mitarbeiter, die Pflegekräfte, die Ärzte und die Reinigungskräfte, die Mitarbeiter in der Küche und in der IT-Abteilung arbeiten derzeit unter Hochdruck, um den Betrieb am Laufen zu halten – und nun betreten die Pflegeschüler Abteilungen, die ihr Laufplan sonst nicht vorsieht, und lernen in dieser Ausnahmesituation, wie ein Krankenhaus organisiert ist. Und sie erleben, wie zentral strikte Hygieneregeln sind – freilich ist Reinigung und Hygiene immer ein Thema, doch in der Theorie allein wohl nicht besonders spannend. Doch nun schaffen es die Azubis bereits am Eingang, körperlichen Abstand zu halten und sich gleichzeitig freundlich zu zeigen. Man könnte auch sagen, in dem einzigen katholischen Krankenhaus Nürnbergs wird Nächstenliebe per Distanz vermittelt.

Die Aufgabe ist groß. "Eine Herausforderung", sagt Anja Müller, Sprecherin des Hauses. Die Mitarbeiter nehmen sich derzeit als "systemrelevant" wahr – und denkbar ist in diesen Tagen, dass auch nach der Krise über die Wertschätzung, die Pflegekräften derzeit per öffentlichem Dank entgegengebracht wird, geredet wird und die Bezahlung mittel- bis langfristig zur wortreichen Anerkennung passt. Gerade hat Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) angekündigt, Corona-Prämien für Arbeitnehmer wie Pflegekräfte, Ärzte oder Kassierer bis zu 1500 Euro steuerfrei zu stellen.

Das Virus fordert Mitdenken und exakte Planung

Auf den ersten Blick sind wir in Deutschland besser gerüstet als das italienische Gesundheitssystem, und zunächst sind die Gelder und milliardenschweren Investitionsprogramme, die von der Bundesregierung auflegt werden, beeindruckend, sagt Anja Müller. Doch sie verdeutlicht mit einer kleinen Zahl, wie im Gesundheitswesen noch immer auf Kante genäht wird: 50 Euro Soforthilfe soll pro Patient gewährt werden - doch allein eine Atemschutzmaske des Typs FFP2, in der Pflege nötig, um vor Ansteckung zu schützen, kostet zehn Euro. Schutzkittel, Handschuhe und Desinfektionsmittel kommen hinzu. Und um Covid-19 nicht zu verbreiten, muss auch hier exakt gedacht und streng gehandelt werden - schließlich darf das Personal das Virus nicht selbst von Zimmer zu Zimmer oder durch die Flure tragen.


Schlecht bezahlt, weiblich, systemrelevant: Wer bringt uns durch die Corona-Krise?


Ein Beispiel: Eine Pflegekraft, die ein Intensivpflege-Zimmer mit Schutzkleidung betritt, muss wieder raus, wenn sie Utensilien vergessen hat – und dann wäre sofort neue Schutzkleidung nötig. Nicht nur die Azubis lernen gerade den sparsamen Umgang mit Ressourcen. Auch Reinigungskräfte auf Intensivstationen müssen derzeit Schutzkittel tragen.

Hygienematerial sorgt für finanzielle Herausforderungen

Wie viel Desinfektionsmittel, Schutzkittel und Atemschutzmasken gebraucht werden, ist offen. Im Krankenhaus werden derzeit nur Notfälle aufgenommen und Frauen, die gebären und einen Kaiserschnitt benötigen. Die Operationen sind abgesagt, und dies bedeutet auch fehlende Einnnahmen, während die Kosten für Hygienematerial teils um das Zehnfache gestiegen sind.

Eine finanzielle Herausforderung – in Hamburg sorgte bereits die Schön-Klinik, die dem dortigen Betriebsrat einen Entwurf über mögliche Kurzarbeit vorgelegt hat, für Empörung. Kurzarbeit in Krankenhäusern klingt in dieser Pandemiezeit, in der alle Ärzte und Ärztinnen sowie Pflegekräfte gebraucht werden, seltsam – doch ohne Einnahmen geraten die Krankenhäuser in finanzielle Engpässe.

Nach der Krise wird die Pflege stärker sein als zuvor

Im St.-Theresien-Krankenhaus ist es ruhig - doch niemand weiß, ob es die Ruhe vor dem Sturm ist. 42 freiwillige Krisenhelfer haben sich bereits gemeldet, die Solidarität ist groß. Und auch aus dieser Krise, davon ist Ulrike Brendel überzeugt, wird die Pflege gestärkt hervorgehen.

Sie unterrichtet auch "Geschichte der Pflege" - und erinnert an Florence Nightingale. Die britische Krankenpflegerin besuchte verwundete Soldaten (1853 bis 1856 im Krimkrieg) nachts mit einer Lampe – und schaffte es später, dass sich die Siechenhäuser zu Krankenhäusern wandelten. Sie legte den Grundstein dafür, dass Pflegepersonal anspruchsvoll geschult wurde.

Heute wird im St.-Theresien-Krankenhaus in einem starken Verbund ausgebildet. Das Haus kooperiert mit der Evangelischen Hochschule Nürnberg, Studiengang Pflege, und hat mit dem Caritasverband Nürnberg e. V. einen Pflegeausbildungsverbund gegründet. Brendel: "Mit kompetenten Kooperationspartnern bilden die beiden Gründungsschulen ab 1. September Pflegefachmänner und Pflegefachfrauen – so die neue Bezeichnung – aus. Das heißt: Nach der Krise werden Pflegekräfte nicht mehr spezialisiert in der Alten-, Kinder- und Krankenpflege ausgebildet, sondern sie werden Generalisten. Vor der Krise hatte Deutschland einen enormen Fachkräftemangel - vielleicht ergreifen nach der Krise mehr junge Leute den Pflegeberuf. Denn wer zeigt derzeit mehr Mut als all die Menschen, die das Gesundheitssystem am Laufen halten.


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