51 Jahre Drama: Die FCN-Krisen wiederholen sich immer wieder

13.7.2020, 05:53 Uhr
Die FCN-Nothelfer: Die beiden Interimstrainer Marek Mintal (li.) und Michael Wiesinger haben den Club vor dem Fall in die Dritte Liga bewahrt.

Die FCN-Nothelfer: Die beiden Interimstrainer Marek Mintal (li.) und Michael Wiesinger haben den Club vor dem Fall in die Dritte Liga bewahrt.

Als der 1. FC Nürnberg nah an einem bis dahin unvorstellbar tiefen Abgrund stand, kehrte das größte Idol der Vereinsgeschichte zurück – auf die Trainerbank, als Nothelfer. Es gehe darum, erklärte die Vereinsführung, der verunsicherten Mannschaft Mut zu machen, ihr "das verloren gegangene Selbstvertrauen zurückzugeben", wie das Idol selbst sagte, und "für eine gute Kampfmoral zu sorgen". Die neu zusammengestellte Mannschaft hatte sich nicht gefunden, monatelang hatte man vergebens auf einen Umschwung gehofft, viel Zeit blieb nicht mehr. Es drohte ein für unmöglich gehaltener Abstieg.

Es klingt alles sehr nach der Gegenwart, aber wir befinden uns nicht im Jahr 2020. Die Malaise liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück, das Idol hieß Max Morlock. Trainer wollte Nürnbergs Jahrhundertspieler und Weltmeister von 1954 dezidiert nicht sein, auf der Bank saß er zur "psychologischen Betreuung der Lizenzspieler", wie Morlock erklärte, es ging im Frühjahr 1969 darum, den erstmaligen Abstieg des 1. FC Nürnberg, der wenige Monate zuvor seinen neunten Deutschen Meistertitel hatte feiern dürfen, zu verhindern.

FCN: Das Unvorstellbare - der Meister stieg ab

Es misslang, trotz Max Morlock, das Unvorstellbare geschah, der Meister stieg ab, im Grunde war es der Anfang der neueren Geschichte des 1. FC Nürnberg. Als Max Morlock im Herbst 1994 starb, war der Club gerade zum vierten Mal aus der Bundesliga abgestiegen und bereits auf dem Weg in die 1996 erreichte Drittklassigkeit, irgendwie verloren zwischen alter Größe und neuem Elend, und immer exakt dann, wenn man glaubte, es könne schlimmer nicht kommen – kam es schlimmer.

An der großen Vergangenheit war nicht zu rütteln – bloß in die Zukunft fand dieser Verein nie, sah es einmal so aus, als würde es gelingen, waren die Rückschläge umso härter. Aber es war immer genug Vergangenheit da, man sah es oft auf der Trainerbank. Da saß Robert Gebhardt, "Zapf" gerufen, weil er nebenher das Wirtshaus "Zum Hippel" führte, mit dem Meisterspieler von 1948 sollte 1978 eine neue Ära beginnen, als es gelungen war, vom FC Bayern München den Stürmer Uli Hoeneß zu holen.

Nürnberg stieg 1979 ab. Später saßen dort Fritz Popp, Meisterspieler von 1968, oder Dieter Nüssing, das Idol der 1970-er-Jahre, dessen großes Kämpferherz den Fans des damals jahrelang zweitklassigen Clubs den Stolz auf ihren Verein erhielt. Auch Thomas Brunner gab den Nothelfer, der treue Tom, ewiger Co-Trainer, Nürnbergs Bundesliga-Rekordspieler und Symbolfigur jener Jahre, als eine von Trainer Heinz Höher angeleitete junge Mannschaft aus der zweiten Liga bis in den europäischen Uefa-Cup stürmte. Es blieb ein flüchtiges Glück, der Weg führte – wie 20 Jahre zuvor, nach dem ersten Abstieg – hart an der Rand des Konkurses.

Es wiederholte sich - eine Klasse tiefer - das Drama von 1969

Da stand Nürnberg nach dem achten Bundesliga-Abstieg im Frühling 2014 zum dritten Mal, die finanzielle Konsolidierung unter dem Aufsichtsratsvorsitzenden Thomas Grethlein geriet zu einem der größten Kraftakte der Vereinsgeschichte. Sie gelang, überraschend führte der steinige Weg 2018 sogar zurück in die Bundesliga – aber auch zurück zur Frage, wie groß der Club wohl sein sollte, sein müsste.


Ende gut, alles gut? Palikuca erwarten beim FCN schwierige Tage


Der Eindruck, dass Erfolg diesen Verein stärker überfordert als Misserfolg, drängte sich wieder einmal auf. Als der Abstiegskampf wenig überraschend zäh geriet, mussten Sportvorstand Andreas Bornemann und Trainer Michael Köllner, die Architekten des Aufstiegs, gehen, Bornemanns Nachfolger Robert Palikuca sollte nach dem neunten Bundesliga-Abstieg 2019 die Mannschaft für die Rückkehr ins Oberhaus aufbauen.

Es wiederholte sich – eine Klasse tiefer – das Drama von 1969, eine umgebaute vermeintliche Spitzenmannschaft der Liga taumelte dem Abstieg entgegen, verunsichert, haltlos, ratlos. Es wirkte, als sehe man, ausschnitthaft, das ganze Dilemma: Aus der Vergangenheit, diesmal der jüngsten, und dem, was die Zukunft sein sollte, wuchs bloß eine Leere, aus den verbliebenen Aufsteigern von 2018 und den vielen Neuzugängen wurde keine Mannschaft, der schleichende Niedergang eines gelähmten Vereins führte an den tiefsten Abgrund, den zur Dritten Liga, einem Friedhof der gestürzten Größen.

Schwarze Zahlen in der Bilanz, Alarmstufe Rot beim Fußball

Anders als 1996, als die Drittklassigkeit noch Regionalliga Süd hieß und die Gegner Egelsbach, Ditzingen, Weismain oder Quelle Fürth, warteten nun 1860 München, der 1. FC Kaiserslautern und der verblasste Glanz des Ostens in einer Liga der permanenten Insolvenzen. Die Nürnberger Vereinsfarben im Sommer 2020: endlich wieder schwarze Zahlen in der Bilanz, Alarmstufe Rot beim Fußball. Aber selbst im vergangenen halben Jahrhundert hat der 1.FC Nürnberg zwischen den Ligen Idole hervorgebracht, Vereins-Ikonen und Publikumslieblinge – insbesondere einen, den Max Morlock der Neuzeit, Marek Mintal. Nur wenige Stunden nach dem finalen Absturz auf den Relegationsrang vor zwei Wochen war Mintal, dessen große Nürnberger Ära der DFB-Pokalsieg 2007 krönte, zum Trainer berufen worden, gemeinsam mit Michael Wiesinger, dem Ex-Profi, der den Club in all seinen Turbulenzen im Schnelldurchlauf erlebte – als Kapitän jenes Teams, dessen Weg in den 1990-er-Jahren aus der Bundesliga in die Regionalliga und zurück führte. Der Pokalsieger Mintal stieg 2008, ein Jahr nach dem größten Triumph der Neuzeit, ab, wie die Meister von 1968, Geschichte wiederholt sich in Nürnbergs Fußball.

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Und man hörte es wieder: Herz und Seele, wie 1969 von Max Morlock; "Herzblut", sagte Wiesinger, brauche es für die Not-OP, für die beiden Relegationsspiele gegen den FC Ingolstadt. Ob er Spieler sehe, wie er selbst einer war, wurde Morlock damals gefragt. "Ehrlich gesagt, es gibt keinen", sagte er – ungern, die Leute sollten "ja nicht denken, dass der Morlock überheblich ist". Marek Mintal war da noch längst nicht geboren, ihm zur Ehrbezeugung angetragene Vergleiche mit Morlock hat er immer geradezu entrüstet zurückgewiesen, jetzt sollte er – auch – das "Idol der Neuzeit" (wie es jahrelang auf einem Fanplakat über der Nordkurve stand) sein, Vorbild für eine gute Kampfmoral. Dass er keinen wie Mintal sehe, musste er nicht sagen, auf so eine Frage wäre niemand überhaupt nur gekommen.

Trost und Zuversicht aus der Vergangenheit geholt

Trost und Zuversicht für ihren trotz allem doch immer geliebten Verein mussten sich die Menschen über Mintal und Wiesinger und aus der Vergangenheit holen. Aus Buenos Aires meldete sich Mintals langjähriger Mitspieler Javier Pinola per Videobotschaft, der Verteidiger mit dem riesigen Herz für seinen Ex-Verein, er malte sich rote und schwarze Streifen ins Gesicht. Zu Tränen gerührt, schrieben Club-Anhänger unter den Gruß, seien sie. Aus Manchester wünschte der in Nürnberg für die Bundesliga entdeckte Ilkay Gündogan Glück, der Weltstar, dessen Vorbild und Mentor in Nürnberg Marek Mintal war. Den Fans machten solche virtuellen Energiequellen Mut, der aktuelle Club ist ja irgendwie weit weg, emotional sowieso, außerdem verschwunden hinter Hygiene-Barrieren, der ganze Profifußball findet irgendwo zwischen den Welten statt, seit die Corona-Pandemie die Stadien leergefegt hat.

Als es losging mit den Zitterspielen gegen den FC Ingolstadt, sah man Thomas Grethlein im leeren Stadion, mit dicker Zigarre und einem Bier, das er aus der Flasche trank. Es war ein seltsames, komisches, lustiges und peinliches, aber auch rührendes Bild, ein ikonographisches – der Aufsichtsratsvorsitzende als Vertreter des Volksvereins, des ausgesperrten Anhangs, heftig kritisiert, trotzig, wieder einmal irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft.

FCN: 51 Jahre Drama komprimiert auf ein paar letzte Sekunden

2:0 zu Hause, so viel Hoffnung, aber es kam: schlimmer denn je, 0:3 in Ingolstadt, das Ende – bis zur letzten Minute der Nachspielzeit, 51 Jahre Drama komprimiert auf ein paar letzte Sekunden eines Anrennens mit Herz und dem Mut der Verzweiflung, Fabian Schleuseners Tor zum 1:3, das unwirklichste Bild dieses Tages, der Ball, wie er, irgendwie dorthin gestochert, langsam ins Tor rollt, Fassungslosigkeit auf beiden Seiten. "Ich habe fast einen Herzinfarkt gehabt, ich habe so gelitten", schreibt Javier Pinola per Whatsapp Minuten später aus Buenos Aires, in Ingolstadt kommen Michael Wiesinger die Tränen, am Ende weinen neben den Verlierern auch alle Sieger.


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Das Unvorstellbare war gleich zweimal passiert, erst als Albtraum, dann als Erlösung – dank Schleusener, Wiesinger, Mintal, dank Pinola, Gündogan, irgendwie auch dank Nüssing, Morlock, Grethlein. Es wirkte, als sei der Club durch die späte Besinnung auf sich selbst dem tiefsten Absturz der Vereinsgeschichte entkommen, bloß: Dieses Selbst, das bleibt ja ein Mysterium. Es umfasst zu viel, den Altmeister, den Fahrstuhlverein, Glück, Unglück, Irrtümer. Sich zu finden, in der Gegenwart, in der Realität – vielleicht geht es auch im sechsten Jahrzehnt nach dem Menetekel von 1969 vor allem darum.

Marek Mintal, der diesen Verein bis über die Grenze zur Selbstlosigkeit hinaus liebt, könnte jetzt der Cheftrainer werden, es könnte eine schöne Vorstellung sein – aber auch eine, für Mintal, beängstigende. Hans Meyer, der die Pokalsieger um Mintal und Pinola anleitete und ein paar Monate später beurlaubt wurde, hat das oft gesagt: wie sehr diesem großen kleinen Verein der Realismus fehlt, die Geduld, die Weitsicht. Es wirkt nach über fünf Jahrzehnten inzwischen wie die kühnste Utopie: dass der 1.FC Nürnberg eine Gegenwart findet, seine Mitte.

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